Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
redlich. Angesichts des vielfältigen Regelbruchs in der medizinischen Forschung frage ich mich, wie hoch die Latte für Redlichkeit und Anstand dort tatsächlich liegt, und wundere mich schon, mit welcher Selbstsicherheit manche prominenteVertreter der Hochschulmedizin in der Causa Guttenberg aufgetreten sind. Prof. Dr. med. Karl Lauterbach, Mediziner,Wissenschaftler und gesundheitspolitischer Sprecher der SPD , sagte in einem Redebeitrag im Deutschen Bundestag: » Dann können wir die wissenschaftliche Arbeit einstellen, ich kann doch niemals mehr einem Studenten irgendetwas vorwerfen, wenn wir das durchgehen lassen. … Das wird langfristig denWissenschaftsstandort in Deutschland massiv beschädigen … es geht auch um die Grundlage unsererWissenschaftsrepublik … wir können nicht einen Bildungs- undWissenschaftsbetrüger im Amt belassen. «
FührendeVertreter derWissenschaft nehmen also eine geschummelte Doktorarbeit zum Anlass, denWissenschaftsstandort bedroht zu sehen? Auch wenn diese Doktorarbeit von einem ehemaligen Minister stammt, ist es doch viel entscheidender für denWissenschaftsstandort Deutschland, ob die führenden Repräsentanten deutscher Universitäten ordentlich arbeiten. Denn ihre Arbeit verstaubt nicht in irgendwelchen Archiven, sondern ist der Maßstab für die Ausbildung Tausender Nachwuchswissenschaftler und in der Medizin für die tägliche Behandlung von Patienten. Ganz entscheidend für die Medizin ist dabei die Frage, wie die wissenschaftliche Grundlage von Diagnostik undTherapie, gemeinhin als Lehrmeinung bezeichnet, entsteht.
Wie entsteht eine Lehrmeinung?
Unter Lehrmeinung in der Medizin versteht man das therapeutischeVorgehen, das Studenten lernen müssen, um ihre Prüfung zu bestehen. Sie prägt ganz entscheidend die Behandlung in Krankenhäusern und Arztpraxen und wird sehr stark von Hochschulprofessoren beeinflusst, die auch meist in denVorständen der Fachgesellschaften tonangebend sind. Da ich aus vielen, zumTeil bereits beschriebenen Gründen der Meinung bin, dass sowohl die statistische Datenlage als auch die therapeutischen Erfahrungen gegen viele angewandteTherapien sprechen, deren Befürworter aber wiederum für sich in Anspruch nehmen, die Lehrmeinung zu vertreten, wollte ich wissen, wie man sich das Zustandekommen der Lehrmeinung heute eigentlich vorstellen muss.
Genau diese Frage habe ich den wichtigsten Institutionen im Gesundheitssystem gestellt.Wer legt die Lehrmeinung fest und setzt sie durch?Wie wird sie überprüft und von wem? Ich wandte mich unter anderem an den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Bundesärztekammer, das Bundesministerium für Gesundheit und die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V.
Zunächst überrascht, dass keiner meine Frage so genau beantworten konnte. Es gibt keinen gesetzlichen Auftrag, der festlegt, wer für das Erstellen der Lehrmeinung zuständig ist und wie dabei vorgegangen werden soll. Letztlich gibt es keine klare Regelung, wie die Behandlungsempfehlungen entwickelt werden sollten. Der Gesetzgeber erklärt sich für nicht zuständig und delegiert diese Aufgabe an die ärztliche Selbstverwaltung lediglich mit derVorgabe aus dem SozialgesetzbuchV§2: » Qualität undWirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. « Eine Lehrmeinung zu entwickeln, ist also Privatsache der Ärzte. Es gab dafür lange keine Strukturen, durch die man hätte erkennen können, ob der Lehrmeinung eine gründliche Analyse des aktuellen Forschungsstandes voranging oder ob sie mehr oder weniger den Privatinteressen einflussreicher Hochschulprofessoren folgte.
Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen, ein Beratergremium für das Bundesgesundheitsministerium vergleichbar mit den 5Wirtschaftsweisen, war wohl deshalb mit der langjährigen Praxis, den anerkannten Stand in der Medizin festzulegen, nicht zufrieden und bat in seinem Sondergutachten im Jahr 1995, » eine Sammlung von diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen, Leitlinien und Richtlinien (Standards) zu beginnen, die dem Ziel derVerbesserung der Qualitätssicherung dienen soll « .DieseAufgabe wurde derArbeitsgemeinschaft derWissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. ( AWMF ) übertragen, die derzeit 158 medizinische Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, die Deutsche
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