Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
Geringschätzung beruflicher Erfahrung, wie viele Gegner der Evidenzbasierten Medizin behaupten?
Definitiv nicht, aber man muss schon genau hinschauen, wie das gemeint ist. In der Forschung sollenWissenschaftler gute Ideen entwickeln, auf denen dann guteTherapien aufbauen.Wenn einWissenschaftler zu solchenTherapien jedoch keine hochwertigen Studien vorweisen kann und dennoch behauptet, seineTherapien seien wissenschaftlich belegt, ist dies nichts als Irreführung. Daran ändert auch ein Professorentitel nichts. In einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung darf er lediglich behaupten, dass dies seine eigene wissenschaftliche Hypothese ist. Die ungeprüfte und vorschnelle breite Anwendung privater Hypothesen vonWissenschaftlern hat schon zu oft in derVergangenheit und auch in der Gegenwart zu vielen unwirksamen bis schädlichenTherapien geführt. Echte Geistesblitze, aus denen wirkungsvolleTherapien entstehen, sind nämlich leider die Ausnahme. Jeder seriöse Forscher weiß das und unterwirft sich diesen Regeln.
In der täglichen Praxis mit Patienten jedoch kann eine medizinische Expertenmeinung trotz fehlender Belege extrem wichtig sein.Wenn ich zum Beispiel einen Patienten mit einer Erkrankung habe, für die es nurTherapien gibt, deren Überprüfung im Studien- TÜV nur Kreisklasseniveau erreicht, suche ich Rat bei Experten, die sich mit dieser Erkrankung gut auskennen und schon viele solcher Patienten behandelt haben. Sagen diese mir, dass das Medikament X zugelassen ist und sie bei ihren Patienten gesehen haben, dass es gut hilft, dann werde ich dies dem Patienten empfehlen und nicht das Ergebnis einer Champions-League-Studie abwarten, das womöglich erst in 10 Jahren vorliegen wird. Das bedeutet, ich verschreibe ein Medikament, obwohl es nur mit Grad D beurteilt ist. Die allermeisten Empfehlungen in der Medizin sind nicht mit hohen Empfehlungsgraden abgesichert. Das muss aber nicht gleich heißen, dass sie alle falsch sind. Das mag daran liegen, dass qualitativ hochwertige Studien teuer sind und auch lange dauern. Es wird auch schlichtweg nicht möglich sein, für jede Fragestellung in der Medizin eine Champions-League-Studie durchzuführen.
Ich habe auch nichts dagegen, eineTherapie mit einer guten klinischen Praxis zu begründen. Aber nur dann, wenn es sich umTherapien handelt, die der Experte auch tatsächlich selbst beurteilen kann. Das kann ein Chirurg zum Beispiel bei der Frage, welche Nahttechnik eine Operationswunde am besten verheilen lässt. Auch bei der Frage, wie man die Ursache von Atemnot oder Ohnmacht feststellt und effektiv behandelt, kann man viel von » alten Hasen « auf diesem Gebiet lernen. Problematischer wird es schon bei der Frage, welche Chemotherapie welche Lebensdauer mit welcher Qualität ermöglicht. In meinen Augen unmöglich wird der Expertenkonsens bei der Frage, welche Ernährungsform vor Krebs schützt, welcher Blutdruckwert der richtige ist oder ob eine Impfung empfohlen werden soll. Hier kapituliert die Urteilskraft des Einzelnen. Je weiter der mögliche Erfolg in der Zukunft liegt, desto mehr brauche ich statistische Studien.
Die Frage, die sich stellt, lautet:Wie definiert man einen Experten?Wenn Experten sich zwar durch ein hohes wissenschaftliches Amt legitimieren, aber gar nicht in der Lage sind, auch nur eine wissenschaftlich hochwertige Studie zu benennen, die ihre Aussage belegt, dann entfällt für mich die Grundlage, sie als Experten zu bezeichnen. Dann frage ich womöglich mit mehr Erfolg bei einer Großmutter nach, die 6 Kinder durchgefüttert hat, was für sie gesunde Ernährung bedeutet.
Besonders wenn nebenwirkungsreicheTherapien oderTherapien mit immenser Breitenwirkung empfohlen werden oder wenn sehr viel Geld damit verdient wird, muss es eine solide Datenbasis geben.Wenn es für etablierteTherapien oder Gesundheitsempfehlungen innerhalb von 30Jahren nicht gelungen ist, hohe Empfehlungsgrade wie A oder wenigstens B zu vergeben, dann stimmt etwas nicht.Wenn solche Empfehlungen jahrzehntelang lediglich durch » Expertenkonsens « begründet werden, dann beweist dies für mich eher, dass sie unzutreffend sind.
Nationale Versorgungsleitlinien
Die anscheinend schwer zu fassenden Qualitätsunterschiede in den vielen Leitlinien der Fachgesellschaften, die sich auch zumTeil widersprechen, hat die Bundesärztekammer dazu veranlasst, 2002 das Programm der NationalenVersorgungsleitlinien zu starten. Beteiligt sind die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
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