Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
unserem Selbst über blitzschnelle körperliche Reaktionen, die Gefühle auslösen. Dies nehmen wir wahr zum Beispiel durch Druck auf die Schultern, ein Bauchgefühl, einen Kloß im Hals, eine Muskelanspannung, ein plötzliches Lächeln auf den Lippen. Jeder Mensch kennt solche Zeichen.
Doch immer dann, wenn ein System,Verstand (Ich) oder Gefühl (Selbst), das andere ohne Rücksprache überstimmt, ist die Gefahr groß, dass solche Entscheidungen zu Unbehagen oder schlechtem Gewissen führen. Kennen Sie die vernünftigen Entscheidungen, die Sie später bereuen, weil Sie doch Ihrem Gefühl hätten folgen sollen? Den Kauf der vernünftigen, praktischen Jacke, die Sie doch nur ungern anziehen, weil Sie ständig an die andere, viel schickere, aber weniger praktische Jacke denken müssen? Aber auch das Gefühl kann sich durchsetzen.Wenn derVerstand Ihnen rät, denTelefonhörer in die Hand zu nehmen, weil er sich verpflichtet fühlt, endlich eine Person zurückzurufen, die Sie eigentlich nicht leiden können. Ihr Selbst sabotiert dies, und Sie rufen stattdessen Ihre beste Freundin an, was später in ein schlechtes Gewissen mündet.
Krank durch zu viel Selbstkontrolle
Julius Kuhl hat erforscht, dass Menschen, die einen guten Zugang zu ihrem Selbst haben, also in der Lage sind, rationale Entscheidungen mit emotionaler Rückmeldung zu verbinden, insgesamt besser dastehen. Er nennt solche Menschen » authentische Persönlichkeiten « und konnte bei ihnen vielfältige positive Auswirkungen messen. Sie schliefen besser, hatten weniger Befindlichkeitsstörungen und eine bessere psychische Gesundheit.
Und doch kann man reineVerstandesentscheidungen manchmal nicht verhindern.Weil man zum Beispiel nicht über genügendVorerfahrung verfügt, um eine gute Intuition zu entwickeln. Darmspiegelung, Zahnarztbesuch, Steuererklärung, Hausaufgaben– manchmal muss derVerstand sich durchsetzen. Hat derVerstand das Kommando, bremst er dann sogar das intuitiveVerhalten, denn jetzt gilt es, nicht unüberlegt und unpräzise zu handeln. Eine wichtige Fähigkeit, die sich evolutionär erst beim Menschen voll entwickelt hat und die es uns ermöglicht, wichtige Ziele wie einen Schulabschluss zu erreichen, die zunächst über eher unangenehmeTeilschritte führen.Wenn derVerstand die Impulse des Selbst bremst, spricht man in der Psychologie von Selbstkontrolle. Doch zu viel Selbstkontrolle hat ihren Preis.
Die unzufriedensten Menschen sind diejenigen, die ständig Entscheidungen treffen, die allein derVerstand vorschreibt, entweder bewusst, indem sie Gefühle aktiv unterdrücken, oder unbewusst, weil ihnen der Zugang zur eigenen Gefühlsbewertung versperrt ist. Als Folge davon treten sowohl psychische Störungen als auch funktionelle Beschwerden auf, etwa Schlafstörungen, depressiveVerstimmungen, Muskelverspannungen und eine erhöhte Anfälligkeit für belastenden Stress. Deshalb sind Strategien, die nur auf » Schweinehund besiegen « aufbauen und nur mit Disziplin und Anstrengungen zu erreichen sind, auf Dauer problematisch. DerVerstand führt uns dann zuVerhaltensweisen, die unsere Gefühle unberücksichtigt lassen.Auch wenn ein kleiner Schubser manchmal nicht schaden kann, kippen doch früher oder später die meistenVorsätze, wenn das Gefühl nicht mit ins Boot kommt. Ich weiß nicht, wie viele Fitnessclubs sich finanzieren, weil die Mitglieder ausVerstandesgründen einenVertrag abgeschlossen haben, aber nach dreimaligem Hingehen nur noch ihren Mitgliedsausweis im Geldbeutel spazieren tragen und zu stillenTeilhabern mutieren. All die gutenVorsätze am Jahresanfang– was ist davon übrig?
Aus Sicht seelischer Gesundheit ist das absolut richtig, denn wenn wir unser Gefühl dauerhaft überstimmen und mit innerem Zwang ständig Dinge tun, die unser Selbst eigentlich nicht mag, dann macht das eben seelisch krank.Viel besser für dasWohlbefinden ist es, wenn Menschen von Anfang an Ziele verfolgen, die sie sich selber gewählt haben und die sie auch tatsächlich als ihre eigenen Ziele erleben. Die zufriedensten und psychisch gesündesten Menschen sind also nach Kuhl diejenigen, die überwiegend Entscheidungen treffen, die von Gefühl undVerstand gemeinsam getragen werden. Deshalb sollte man möglichst viele Entscheidungen, ganz besonders im Privatleben, mit einem guten Bauchgefühl treffen.
Doch wer kann dies, und wer hat damit ein Problem? Ich treffe in meinenVorträgen immer wieder Menschen, die ganz genau spüren, welcher Nonsens heutzutage
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