Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
im Namen der Gesundheit auf uns losgelassen wird. Aber weil dieser Nonsens von Professoren vertreten wird, sagen sie es nicht laut. Und ich erlebe immer wieder, wie es nach meinemVortrag aus ihnen heraussprudelt: Genau, das habe ich mir schon immer gedacht und für mich die Dinge getan, die mein Bauch mir geraten hat. MeineTochter denkt anders und kritisiert mich deswegen. Schon wenn sie die Butterdose oder den Salzstreuer nur sieht, sagt sie mir: Papa, denk an dein Gewicht und den Blutdruck. Dann komme ich schon ins Grübeln, ob ich mich nicht doch ungesund ernähre. 10 Die Menschen über 60 wissen noch, was man in allen Kulturen immer gewusst hat: Dass man ein properes Enkelchen nicht zur Abspeckkur schicken muss, dass man kranken Menschen keine rohen Möhren oder Salate anbietet, sondern Brühe, stundenlang Gekochtes und Fettes, also leicht zugängliche Energie.
Jüngere Generationen dagegen kennen es nicht mehr, dass immer und ausreichend Nahrung zu haben keine Selbstverständlichkeit war. Dass man sich auf ein Schlachtfest gefreut hat, anstatt danach einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Dass Sport nur zum V ergnügen betrieben wurde und man froh war, nicht ausgezehrt durch die Landschaft rennen zu müssen.
Heute hetzen die Menschen als Berufstätige, als Eltern, als Sinnsucher von T ermin zu T ermin. Besuchen Ernährungskurse, Fitness- und Diätprogramme, nutzen die Angebote exotischer Gesundheitslehren, kaufen tonnenweise problematische Produkte wie probiotische Joghurts aus Fäkalbakterien oder mit cholesterinsenkender Chemie angereicherte Margarine. Glauben an Nahrungsergänzungsprodukte, die uns mit V itaminen, Antioxydantien oder Radikalenfängern versorgen sollen und nicht selten aus den Abfallprodukten normaler Nahrungsmittelherstellung (zum Beispiel Rückstände aus den Saftpressen) bestehen. Sie traktieren nicht nur sich selbst, sondern die ganze Familie mit solchem Gesundheitswahn. Und das, obwohl sie eigentlich spüren müssten, dass dies alles grandioser Unfug ist, den man nicht anders nennen kann als: schlechte Medizin.
Und noch einmal die Frage: W arum verhalten Menschen sich so?
Angst macht manipulierbar
DieVoraussetzung für seelische Gesundheit ist ein guter Selbstzugang. Doch diesen kann man dauerhaft stören und damit auch den inneren emotionalen Kompass außer Kraft setzen. Die Störenfriede sind Angst und Sorgen. Menschen, die man in Angst versetzt, die sich ständig Sorgen machen, haben es schwerer, ihre Gefühle zu erkennen und Entscheidungen zu treffen, die ihnen wirklich guttun. Julius Kuhl hat erforscht, dass Menschen unter Stress und Angst ihren Selbstzugang verlieren und daraufhin Entscheidungen treffen, die sie nicht an ihren eigenen Bedürfnissen ausrichten.Wenn der Zugang zu den körperlichen und emotionalen Signalen unseres Selbst blockiert ist, können wir Gedanken, Gefühle und Ziele, die eigentlich nicht zu uns passen, gar nicht als fremd wahrnehmen.Wir glauben dann, dass sie zu uns gehören, und verfolgen im schlimmsten Fall unser ganzes Leben lang Ziele, die zwar äußeren Normen wie gesellschaftlichen, politischen, religiösen oder moralischen Zwängen entsprechen und allgemein als richtig angesehen werden, unseren eigenenWerten und Erfahrungen jedoch zutiefst widersprechen.
Ängste verändern auch unsere Sicht auf dieWelt. Unter Angst verstärken wir den Blick auf Einzelheiten, von denen Gefahren ausgehen könnten. Bei einer echten Bedrohung ist dies eine sinnvolle reflexartigeVerhaltensweise, weil wir so schneller tatsächliche Gefahren erkennen und darauf reagieren können. Sind die Gefahren aber nicht real und werden noch dazu permanent thematisiert, dann wirkt sich diese an sich sinnvolleVerhaltenssteuerung negativ aus.Waldsterben, Klimakatastrophe, Dioxin– alles wird dann zur monströsen Bedrohung. DieWirklichkeit wird ins übertrieben Gefährliche verzerrt. Und das macht psychisch krank. Depressionen, Zwangserkrankungen, Angst- und Essstörungen beruhen oft auf dem fehlenden Zugang zu den eigenen Gefühlsbewertungen. Dies bildet auch die emotionale Grundlage für Schwarz-Weiß-Denken, extreme und sogar fundamentalistischeWeltsichten, die die Öffentlichkeit heute weitgehend bestimmen, obwohl es uns objektiv betrachtet insgesamt so gut geht wie noch nie in der Menschheitsgeschichte, in der Mangel, Lebensbedrohung und Schmerzen viel alltäglicher waren als heute.
Menschen mit einem gestörten Selbstzugang unterliegen häufig der Gefahr einer sogenannten
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