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Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)

Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)

Titel: Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Frank
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natürlichen Lebensstil definierte. Die Losung lautete: Zurück zur Natur. Es entstanden durchaus positive gesellschaftliche Neuerungen wie weniger steife Umgangsformen, bequemere Kleidung und ein entspannteresVerhältnis zum eigenen Körper. Aber wie immer, wenn sich Gruppenmoral entwickelt, setzen sich wirklichkeitsfremde Ideologien durch, zum Beispiel die Forderung, wie Naturvölker zu essen, nämlich angeblich vegetarisch und roh.
    Aber derTraum gut betuchter Großstadtbürger von Natur hatte nichts mit der Lebensrealität etwa von Bergbauern zu tun, wo man für jede technische Erleichterung dankbar war. Gerade Naturvölker wie die Amazonasindianer jagen, schälen, legen ein und kochen, wann immer es geht. Und das aus gutem Grund, denn Pflanzen besitzen nicht nur Nährwerte, sondern auch natürliche chemische Abwehrstoffe, um sich gegen Fraßfeinde, also auch uns, zu wehren. Solche Abwehrgifte können unsereVerdauung und Gesundheit in vielfältigerWeise stören. Hinzu kommt, dass der menschlicheVerdauungsapparat sich im Lauf der Evolution verkürzt hat und immer schlechter mit solchen Giften zurechtkommt. Somit bestand eine derVoraussetzungen für die Entwicklung des Homo sapiens sogar darin, dass er lernte, zu schälen, zu kochen und viele Giftstoffe durch Züchtung von Nutzpflanzen zu reduzieren. Doch solche fachlichen Argumente haben gegen Moralisten keine Chance.
    In der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts trieb das Ganze seltsame Blüten und brachte eine eigenartige Mischung aus Naturanbetung, Okkultismus sowie Jugend- und Körperkult hervor. Dabei reichte es nicht, gesund zu leben, wer dazugehören wollte, musste auch die richtige Einstellung und einen unbedingtenWillen zu Reinheit und Stärke zeigen. Krankheit und Schwäche wurden zur direkten Folge einer falschen Einstellung und fehlendemWillen. Somit konnte der Kranke als schuldig und minderwertig gelten. Dieses Denken war bei intellektuellen Eliten zwischen den zweiWeltkriegen weit verbreitet. Es wundert nicht, dass solches Gedankengut in der Zeit des Nationalsozialismus auf fruchtbaren Boden fiel. Daraus wurde dann ab 1933 die » Neue Deutsche Heilkunde « . Der Einzelne wurde darauf verpflichtet, seine » aufgrund seines Erb- und Rassegutes überhaupt erreichbare Leistungsfähigkeit und Gesundheit « zu sichern. Es wurde eine Reichsvollkornkammer eingeführt, und Leibesübungen wurden Bürgerpflicht.
    Schon damals hatte vollwertige Ernährung keine sachliche Grundlage, sondern eine ideologische. Der Reichsärzteführer Leonardo Conti erklärte sogar: » Der Kampf um das Vollkornbrot ist ein Kampf für die Volksgesundheit. « Prävention bekam im Nationalsozialismus einen sehr hohen Stellenwert, während die Behandlung des kranken Individuums, also minderwertigen Lebens, dagegen zurückzustehen hatte. Was das in letzter Konsequenz bedeutete, ist bekannt. Nun soll bitte jeder auch nach diesem Buch sein Vollkornbrötchen genießen, wenn es ihm schmeckt. Aber sich bitte schön nicht als der gesündere, bessere Mensch fühlen. Er wandelt sonst auf sehr problematischen Spuren.
    Nach dem Krieg wollten die Menschen von hartenVollkornschrippen und Körperwahn nichts mehr wissen, die Ideen der Lebensreformer existierten im Rahmen verschiedener naturheilkundlicherVereinigungen eher unauffällig weiter. Doch Anfang der 1980er Jahre bekamen sie wieder enormen Aufwind, und zwar durch die Einführung eines neuen Studienfachs, der Haushalts- und Ernährungswissenschaften oder auch Ökotrophologie. Hervorgegangen aus den landwirtschaftlichen Haushaltsschulen, die noch vermittelten, wie man fachgerecht kocht, änderte es im Rahmen der Akademisierung seine Lehrinhalte radikal.
    An der Universität Gießen bauten Ernährungswissenschaftler unter Claus Leitzmann Ende der 1970er Jahre an einem Ernährungskonzept namensVollwerternährung und formulierten 1981 die sogenannte Gießener Formel, die Zeitgeist, alte Ideologien und berechtigte Umweltkritik miteinander verknüpfte: » MitVollwert-Ernährung sollen hohe Lebensqualität– besonders Gesundheit–, Schonung der Umwelt, faireWirtschaftsbeziehungen, soziale Gerechtigkeit weltweit gefördert werden. « Man könnte dies als die Geburtsstunde der neuen Lebensstilmoral bezeichnen, als moderneVariante der alten Lebensreform.
    Dieser moralische Anspruch des neuen Studienfachs wirkte sehr attraktiv auf junge Menschen, die etwas Sinnvolles studieren wollen. Der birkenstocktragende Student, der sein Brot beimVollkornbäcker

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