Schleier der Traeume
rote Augen hatte.
»Dass ihr jeweils einen Drachen auf dem Unterarm habt und die beiden sich zu einem Paar ergänzen, macht euch noch nicht zu Dr. Jekyll und Mr Hyde«, wandte Rowan ein.
»Und doch haben Sean und ich gemeinsame Kennzeichen und teilen uns eine Gestalt.« Er spreizte die Hände. »Den ersten Teil der Nacht bin stets ich dran.«
»Gestaltwandeln funktioniert ganz anders. Ich zapfe die Gedanken eines Menschen an und erschaffe daraus den Traumschleier«, sagte sie. »Ich weiß, dass du nicht Sean Meriden bist, der einen auf Küchenchef macht. Du bist ein völlig anderer.«
Dansant nickte.
Rowan hatte in ihrem Leben viele seltsame Dinge erlebt, doch so etwas war ihr noch nicht begegnet. »Und wie seid ihr zwei dazu gekommen, euch einen Körper zu teilen?«
»Dazu habe ich nur Mutmaßungen, keine Fakten«, gab er zu, »doch im Laufe der Jahre haben Sean und ich einige logische Schlüsse gezogen. Alles hat in Nizza begonnen, und zwar mit einem Mann namens Nathan Frame, der mit der Tochter eines Küchenchefs verheiratet war.«
Dansant erzählte ihr die Geschichte des Unfalls und die wenigen Erinnerungsbruchstücke, auf die Sean sich von Nathans Zeit vor der Ankunft in Frankreich hatte besinnen können.
»Bei Gisèles Entführung wurde sie in einen Lieferwagen voller Reagenzgläser und Gewebeproben gezerrt – Präparate von Menschen, die von den Kidnappern gefoltert worden waren. Beim Unfall rannte Nathan ins Feuer, um Gisèle zu retten, doch der Lieferwagen explodierte, und er erlitt furchtbare Verbrennungen. Bei dieser Gelegenheit müssen ihm Proben in den Körper gedrungen sein, denn Splitter der Reagenzgläser wurden in seinen Wunden entdeckt. Nach zwei Wochen im Krankenhaus ist er dann an seinen Verletzungen gestorben.«
Ihre Kehle schnürte sich zu. »Nein, ist er nicht.«
Dansant nickte. »In den Sekunden nach seinem Tod bin ich in seinem Körper erwacht. Zugleich erfuhr sein Leib eine Spontanheilung und verwandelte sich in meine Gestalt. Ich hatte weder Verbrennungen noch innere Verletzungen, und mir war klar, dass ich nicht im Krankenhaus bleiben und entdeckt werden durfte – also bin ich geflohen und habe mich versteckt. Nach Mitternacht habe ich dann das Bewusstsein verloren, und mein Körper hat sich erneut verwandelt, diesmal in Sean, der ein eigenes Bewusstsein und eine eigene Persönlichkeit hat.«
»Dann ist Sean Nathan.«
Dansant schüttelte den Kopf. »Keiner von uns ist Nathan Frame, obwohl wir beide einiges von seinem Wissen und seinen Eigenschaften besitzen. Ich habe das Talent zum Kochen und die Liebe zur Kochkunst von ihm. Sean hat seine Fähigkeiten im Bereich der Mechanik und seine Geschicklichkeit im Kampf geerbt. Und beide sind wir begabt im Umgang mit Waffen.«
»Und hatte Sean Verbrennungen, als du dich in ihn verwandelt hast?«
»Zum Glück nicht. Mit der ersten Verwandlung wurde auch er geheilt.« Dansant seufzte. »Ich bin nicht Sean, und ich bin mir seiner auch nicht bewusst. Bei meinem nächsten Erwachen, als die Sonne tags darauf unterging, sah ich mich am Hafen auf ein Schiff schauen. Ich war fünfzig Kilometer von dort entfernt, wo ich mich schlafen gelegt hatte, und konnte mich nicht entsinnen, wie ich dorthin geraten war. Meine Kleidung war an den Nähten zerrissen, als hätte ein größerer Mann sie tragen wollen. Zum Glück war dieser Bereich des Hafens zu jenem Zeitpunkt menschenleer, und niemand hatte uns die Gestalt wechseln sehen.«
»Bei Sonnenuntergang verwandelst du dich also von Sean in dich zurück und behältst diese Gestalt bis weit nach Mitternacht«, sagte sie, um sicher zu sein, alles richtig verstanden zu haben. »Du hast keine Erinnerung an das, was er tut, solange er eurem Körper befiehlt, und ihm geht es genauso, wenn die Reihe an dir ist, denn wenn du wach bist, schläft er.«
Dansant nickte. »Anscheinend teilen wir uns alle guten Eigenschaften von Nathan Frame, obwohl wir ihm körperlich nicht ähneln. Sean besitzt ein paar Erinnerungsbruchstücke von ihm, ich keine. Was wir aber von Nathans ursprünglicher Gestalt haben, sind die hier.« Er berührte das Tattoo an seinem Arm. »Seiner Krankenakte zufolge hatte Nathan Tattoos an beiden Armen, ein scharlachrotes und ein blaues. Und von denen besitzt jeder von uns eins.«
Rowan überlegte, wie Leben und Erfahrungen eines Menschen so zweigeteilt sein konnten und wie viel Kummer diese Teilung Meriden und Dansant bereiten musste. »Woher wisst ihr das alles voneinander? Wenn jeder von
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