Schleier der Traeume
euch ein eigenes Bewusstsein hat und den anderen nicht spürt, wie könnt ihr dann kommunizieren?«
Er lächelte schwach. »Erst versuchten wir, uns über Dritte Botschaften zukommen zu lassen, doch mit der Zeit merkten wir, dass sie die Nachrichten mitunter verändert oder sogar vergessen haben. Danach schrieben wir uns Notizen und ließen sie in unseren Taschen, aber
mon frère
hatte nicht immer Geduld dafür. Als wir nach Amerika kamen, heuerte Sean für seine Werkstatt einen Telefonauftragsdienst an. Ich hatte die Idee, da anzurufen und für ihn Nachrichten zu hinterlassen, und registrierte mich auch dort, damit er das Gleiche tun konnte. Wir müssen uns natürlich vorsehen, was wir einander ausrichten lassen, doch dieses Verfahren hat sich als sehr effektiv erwiesen.«
Rowan lachte leise. »Ihr solltet es echt mal mit Mails probieren.« Ihr Lächeln verschwand, als sie sein Gesicht betrachtete. »Und du erinnerst dich wirklich nicht, wer du warst, bevor dir und Sean das Ganze widerfuhr?«
»Nein – ich wünschte, ich würde es. Meine Erinnerung beginnt an dem Abend, an dem ich im Krankenhaus erwacht bin.« Er verzog das Gesicht. »Es gibt nur ein paar vage Hinweise darauf, was für ein Mann ich war. Ich beherrsche viele Sprachen, von denen einige sehr alt und nicht mehr in Gebrauch sind, bin mit dem Französischen aber am vertrautesten. Ich weiß sehr gut mit Waffen umzugehen, vor allem mit Schwertern. Wie du weißt, male ich Porträts und Landschaften. All diese Leute und Orte habe ich nie gesehen, und doch kenne ich sie.« Er fasste sich an die Brust. »Hier drin fühle ich sie.«
»Entsinnst du dich daran, gestorben zu sein?«
»Nein. Ich erinnere mich nur an mein Erwachen. Ich hatte gedacht, mein erster Körper sei vielleicht von den Männern zerstört worden, die Nathans Frau entführt hatten, aber dann kam an dem Abend, an dem wir in der Oper waren, eine Frau auf mich zu, nannte mich Michael und küsste mich.« Er warf ihr einen besorgten Blick zu. »Ich war auf der Suche nach dir und achtete deshalb nicht weiter auf sie.« Er wies mit dem Kopf auf das Bild. »Es war diese Frau.«
»Michael ist ein recht verbreiteter Name, aber immerhin wissen wir, wie er aussieht. Wenn Sean wieder dran ist, kann er ja anfangen, für dich auf ihn Jagd zu machen.«
»Nein,
ma mûre
. Falls der Mann, der ich war, am Leben ist, habe ich kein Interesse daran, ihn kennenzulernen.«
»Warum nicht?«
»Er darf nicht wissen, dass er in einem zweiten Körper wiedergeboren wurde. Er hat sein Leben und seine Frau.« Er strich ihr durchs Lockenhaar. »Genau wie ich.«
»Für acht Stunden?« Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Wie kannst du so leben? Du bekommst ja nicht mal einen vollen halben Tag.«
Er warf ihr einen schiefen Blick zu. »Leider wurde ich nicht gefragt. Aber es ist nicht so schlecht wie du denkst. Man schläft jede Nacht, ohne die Stunden zu bedauern, die man der Welt entrückt ist. Wenn Meriden unseren Körper übernimmt, ist mir das an sich gleich.«
»Das kommt noch dazu.« Sie schlang ihre Finger um seine. »Keiner von euch schläft mal so richtig, oder?«
»Sean schon.« Dansant zuckte mit den Achseln. »Ich scheine das nicht zu brauchen.«
Sie schob ihm eine lange Strähne hinters Ohr. »Hast du keine Angst, einmal nicht wiederzukommen, nachdem er dich abgelöst hat?«
Darüber dachte er kurz nach. »Ich hatte immer das Gefühl, es ist Seans Körper, nicht meiner. Ich bin dankbar für mein Dasein, aber ich lebe es vermittels seines Leibes.« Er seufzte. »Nach dem Unfall konnten wir das anfangs beide nicht akzeptieren. Sean war psychisch zu angegriffen, und ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, bislang nur als Gewebeprobe existiert zu haben. Wir haben beide damit zu kämpfen und verachten einander oft. So wird ihm sicher nicht gefallen, dass ich es war, der dir von uns erzählt hat.«
»Vor Sean habe ich keine Angst.« Sie hielt seine Hand fest. »Ich liebe ihn.«
Seine Lippen wurden schmal. »Das weiß ich.«
»Und dich auch.« Während er sie noch anstarrte, beugte sie sich vor und strich ihm mit den Lippen über den Mund. »Egal, welche Probleme ihr miteinander habt – damit werdet ihr beide klarkommen müssen.«
Er wirkte ebenso bestürzt wie erfreut und fuhr ihr mit den Fingern durch die Locken. »Du würdest dich für uns beide entscheiden?«
»Ihr mögt zwei verschiedene Männer sein, doch ihr habt dasselbe Herz – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.« Sie zog ihn auf sich.
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