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Schleier der Traeume

Schleier der Traeume

Titel: Schleier der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Viehl
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Nathans Vorleben ans Licht zu holen und herauszufinden, ob diese Vergangenheit sich auch auf sie auswirken mochte, gab es noch immer zahllose beunruhigende Lücken in seinem Lebenslauf. Nathan war nach Rom gereist, dann aber für fast ein Jahr verschwunden. Es gab keine Unterlagen darüber, wann er Italien verlassen hatte oder wie er nach Frankreich gereist war – es war, als hätte er sich dort einfach materialisiert. Er musste vor etwas geflohen sein, sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, seine Papiere zu fälschen und sich eine neue Identität zuzulegen. Das war ihm bravourös gelungen, und doch hatten die Dunkelmänner ihn gefunden. Warum sie eine ganze Familie ausgelöscht hatten, um an einen früheren Landsmann von ihnen zu kommen, der gern kochte, war Sean ein Rätsel, aber was Nathan anging, ergab ohnehin kaum etwas einen Sinn.
    »Hallo, Sean.« Eugene, einer seiner Stammkunden, kam in die Werkstatt. »Wo bist du gewesen, du Faulpelz?«
    »Hatte was zu erledigen.« Sean stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Was kann ich für dich tun?«
    »Ich möchte ein paar Ersatzteile bestellen.« Eugene bückte sich und musterte das Motorrad. »Das ist ja eine Ducati Monster!« Er stieß einen Pfiff aus. »Die Reifen sind hinüber. Was ist passiert? Nägel auf der Straße?«
    Eugene hatte ein paar Motorräder, an denen er dauernd herumschraubte, und Sean fragte ihn gern mal um Rat. »Unfall bei mir in der Seitenstraße. Hast du schon mal gesehen, dass zwei Reifen auf einmal geplatzt sind?«
    »Wenn Nägel auf der Straße lagen, ja. Oder wenn die Reifen schlampig erneuert wurden.« Eugene ging in die Hocke und befühlte den Riss im Hinterreifen. »Sieht seltsam aus. Schau mal, wie das Gummi nach außen steht. Das Ding muss praktisch explodiert sein.« Er erhob sich und ging zum Vorderreifen. »Der auch.«
    »Zu viel Druck?«
    »Wenn sie mit Beton gefüllt gewesen wären oder so.« Er kratzte sich am Kopf. »Sehr merkwürdige Sache, mein Lieber.«
    »Ich ziehe zwei neue Reifen auf.« Sean nahm sich vor, sie beim Lieferanten zu bestellen. »Komm mit ins Büro, dort notiere ich mir, was du haben willst.«
    Eugene blickte auf dem Weg durch die Werkstatt mehrmals zum Motorrad zurück. »Kann ich die alten Reifen haben?«
    »Wofür? Als Buchstützen?«
    »Ich will sie einem Freund zeigen. Er hat einen Schrottplatz und sammelt unheimliche Sachen. Er hat einen Achtspur-Rekorder aus dem Wrack eines Lieferwagens, der in den Siebzigern von einer Brücke gestürzt ist und ein paar Kinder getötet hat. Das Tape steckt noch im Gerät, aber wenn man es einschaltet, spielt es immer nur ›Free Bird‹. Das macht mir wirklich Angst.«
    Sean lachte leise. »Klar kannst du die Dinger haben, wenn du sie wegschaffst.«
    »Prima.« Eugene zog einen zerknitterten Zettel aus der Tasche. »Gut, und jetzt zu den Vergasern.«
    Der Blick aus Gerald Kings Schlafzimmerfenster änderte sich nie. Von seinem Platz im obersten Stock eines der letzten frei stehenden Herrenhäuser Manhattans sah er die Straßen unten, dahinter den Fluss und in der Ferne die vagen Umrisse der Skyline von New Jersey vor dem Abendhimmel.
    In Frühling und Sommer sah er nur selten nach draußen, denn die warme Jahreszeit mit ihren unzähligen Vergnügungen war ihm gleichgültig. Erst wenn der Herbst das Laub von den Bäumen und die Menschen aus den Straßen fegte, bewunderte er seinen Ausblick. Und wenn dann der Winter mit beißenden Winden und grauem Schnee gekommen war, glich die Stadt der Landschaft seiner Seele: leer, trostlos, ein alter Titan, der für immer an den Fels seines Daseins gekettet war und sich täglich von Gift ernährte, um nur am Leben zu bleiben.
    Wenn er ein Mann des Gebets gewesen wäre, hätte er nur eine Bitte an Gott gerichtet: ihm eine zweite Chance mit dem einzigen Wesen zu gewähren, das er je geliebt hatte. Und sie war hier, in dieser Stadt, und womöglich war sie jetzt kaum eine Straßenecke entfernt. Gerade eben außer Sicht.
    Was mochte sie tun? Durch die Straßen gehen? Gesichter beobachten? Nach seinem Gesicht suchen? Ob sie nach all den Jahren überhaupt noch an ihn dachte? Oder hatte sie sich gezwungen, ihn zu vergessen?
    Sie konnte das – und mehr. Mit ihren Kräften vermochte sie Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen und den Beweis dafür mit seinen Händen berührt. Und jetzt war sie da draußen, verloren und allein, und verbarg sich in der Herde der Durchschnittsmenschen, die sich um

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