Schleier der Traeume
Knie. »Sie sagten, er bringt jeden um, den er sich gegriffen hat, um sich dessen DNA zu verschaffen.«
»Das hat man uns gesagt«, pflichtete sein Agent ihm bei, »und es geht auch aus den Unterlagen hervor.«
Der Vorstandschef von GenHance hatte viele Geheimnisse; es wäre ihm ein Leichtes, selbst seine vertrauenswürdigsten Mitarbeiter zu täuschen. »Und die ergriffenen Maßnahmen?«
»Ein paar echte Spürhunde werden auf sie angesetzt und erreichen New York in den nächsten zwölf Stunden.«
Genaros Effizienz und Entscheidungsfreude waren unverändert, doch diesmal sandte er seine Männer auf Kings Territorium. »Schicken Sie mir umfassende Informationen über diese Leute – und natürlich Fotos.«
»Das geht Ihnen alles gerade übers Internet zu.«
King hörte ein schwaches Rauschen, als würde ihm Sand aus den Ohren rieseln. »Hat Genaro das veränderte Transerum bereits an einem lebenden Menschen getestet?«
»Nein, Sir.«
Genaros untypisches Zögern gewährte King einen leichten Vorsprung, den er nutzen würde, um seinen reichen Rivalen in Atlanta auszuradieren. »Behalten Sie die Lage im Auge. Und melden Sie sich, sobald das Transerum getestet wird.«
»Ja, Sir.«
King beendete das Telefonat, verließ sein Schlafzimmer, ging einen kurzen Flur entlang und erreichte einen Raum, den nur er betreten durfte. In dieser kleinen Kammer war die Luft viel kälter und trockner, roch aber immer noch ein wenig nach Maiglöckchen.
Wie immer trat er an ihr makelloses Bett. Schneeweiße flandrische Spitze wallte von einem anmutig geschwungenen Baldachin und verhüllte die cremefarbenen Laken mit einem Schleier. Die Decke lag aufgeschlagen da, als hätte jemand gerade das Bett verlassen. Das rechte Kissen war noch immer etwas eingedellt, und am Fußende der Matratze war ein langer Morgenmantel aus blassrosa Satin drapiert.
Er streckte zitternd die Hand aus, berührte ehrfürchtig die Delle im Kissen und dachte an die vielen Abende, wo er an dieses Bett getreten war und höchste Lust in ihren Armen gefunden hatte. Sie war so süß und gutgläubig gewesen und hatte seine Leidenschaft, obwohl sie sie nie wirklich verstanden hatte, doch akzeptiert. Ihre Liebe hatte all sein Begehren gestillt, ihm gegeben, worum er auch bat, und ihm nie etwas abgeschlagen.
Diese Selbstlosigkeit, diese unendliche Großzügigkeit – das war wahre Liebe.
King wandte sich langsam dem Gemälde an der Südwand zu. Er hatte das Bild kurz vor ihrer Ankunft in seinem Haus in Auftrag gegeben, und der weltbekannte Künstler hatte jede Nuance ihres Wesens erfasst: das Goldblond ihres Haars, ihre auserlesen weiße Haut. Ihre großen, hinreißend blauen Augen sahen zu ihm hinunter und strahlten von innen. All die Liebe, die sie in sein Leben gebracht hatte, sah er in ihrem sanften Lächeln und den schmalen Händen.
Er ertrug es nicht, sie länger als ein paar Sekunden zu betrachten; seine Trauer war so groß, dass er sich abwandte und an ihren kleinen Schminktisch trat. Das elegante Perlenhalsband, das sie an jenem Tag hatte tragen wollen, lag eingedreht neben der Bürste und dem Handspiegel aus Elfenbein, die sie am Abend zuvor benutzt hatte. Ein paar Haare steckten noch zwischen den Borsten, und als er die Bürste an die Nase hob, roch er ihre Süße und Güte.
Vorsichtig legte er die Bürste dorthin zurück, wo sie in der dicken Staubschicht gelegen hatte, die ihm nie auffiel. Wenn er in den geschwungenen Spiegel sah, begegnete er nur den eigenen Augen, die der Schmerz verdüsterte und in denen Tränen schimmerten, die zu vergießen er sich weigerte.
»Bald sind wir wieder vereint, Alana«, murmelte er. »Sehr bald, meine Liebe.«
ZWEITER TEIL:
Chasse
Vermisstenanzeige
Polizeibehörde von Manhattan
100 Centre Street
New York, NY 1 0 013
Aktenzeichen: J5720
Ort des Vorfalls: Villa King, Riverside Drive 371, Manhattan (Ecke 109. Straße)
Datum: 29. Sept. 2008
Zur Person des/der Vermissten
Name: Alana King
Geburtstag: 11. Juli 1992
Alter bei Verschwinden: 16 Jahre
Hautfarbe: weiß
Geschlecht: weiblich
Größe: 160 cm
Gewicht: 47 kg
Haarfarbe: blond
Frisur: glattes, schulterlanges Haar
Augenfarbe: blau
Teint: hell
Statur: dünn
Gesundheitliche/geistige/körperliche Verfassung: körperlich schwach, geistig gestört, medikamentenabhängig (vgl. das beigefügte psychiatrische Profil)
Krankengeschichte: diverse Operationen zur Korrektur von Geburtsfehlern (vgl. beigefügte medizinische Unterlagen)
Muttermale/andere
Weitere Kostenlose Bücher