Schleier der Traeume
den Kopf und wandte sich an seinen Kollegen. »He, Frankie, du hast doch letzte Woche ein Mädchen aus einem verrammelten Gebäude kriechen sehen, als du auf Cleavers Route mitgefahren bist. Wo war das?«
»Oha.« Der Kleinere dachte so scharf nach, dass sein Gesicht sich verzog. »Vielleicht drüben in der siebenundfünfzigsten Straße. War nicht meine Strecke«, erklärte er Meriden. »Bin für ’nen Kollegen eingesprungen.«
Meriden gab beiden seine Visitenkarte. »Falls Sie sie wiedersehen, rufen Sie mich doch bitte an. Ihr Vater möchte bloß, dass sie unbeschadet nach Hause kommt.«
Die Männer waren einverstanden, schoben die leeren Eimer auf den Gehsteig und fuhren weiter.
Meriden kurvte zur siebenundfünfzigsten Straße, doch obwohl er sie zweimal langsam abfuhr, fiel ihm nirgendwo ein mit Brettern vernagelter Eingang auf. Es war eine schwache Spur, doch es gab nicht allzu viele ungenutzte Gebäude in Manhattan; was leer stand, war zur Renovierung oder zum Abriss bestimmt. Bei der Vorstellung, ein Mädchen wie Alana King könnte in einem Haus schlafen, das eines Tages unvermutet abgerissen wurde, zog sich ihm der Magen zusammen. Aber immerhin schlief sie wohl drinnen, und er würde ihre Leiche nicht steifgefroren in einer Gasse finden, wo sie in eisiger Nacht eingeschlafen war.
Warum mochte sie fortgelaufen sein? Er wusste aus ihrer Akte, dass sie psychische Probleme hatte, aber Gerald Kings Tochter zu sein, bedeutete ein sehr privilegiertes Leben. King war ein kranker, komplett verdrehter Typ, doch er hatte über Alana in einer Weise geredet, die Meriden keinen Moment daran hatte zweifeln lassen, dass er sie liebte. So sehr, dass er für sie töten würde.
Warum also war sie ausgerissen? Was hatte sie dazu gebracht, von zu Hause zu fliehen? Und warum war sie nicht längst zurückgekehrt?
Meriden fuhr zu seiner Werkstatt zurück. Noch immer hatte er sich nicht selbst über Alana King schlau gemacht, und vielleicht sollte er genau das nun endlich tun.
12
Dansant merkte fast sofort, dass Rowan sich verändert hatte. Vorher war sie auf unpersönliche Art freundlich zu ihm gewesen und hatte ihn bei der Arbeit nicht anders behandelt als ihre übrigen Kollegen, also ab und an ein Lächeln oder einen Scherz mit ihm getauscht, sich aber weit mehr auf sein Kochen konzentriert als auf seine Person.
Nach all den Jahren, in denen er die Frauen so selbstverständlich angezogen hatte wie ein Blumengarten die Kolibris, fand er ihren Mangel an Interesse verstörend – vor allem, da er wusste, dass er ihr nicht gleichgültig war: Unter seinem Bann hatte sie leidenschaftlich und wunderbar auf seine Berührung reagiert, und das ließ ihre Indifferenz umso paradoxer erscheinen.
Seit sie aber nach ihrem zweiten freien Tag zur Arbeit zurückgekehrt war, hatte sich Rowans Verhalten ihm gegenüber verändert. Er spürte, dass sie ihn nun dauernd beobachtete, und zwar nicht, um sein Kochen zu verfolgen, sondern um ihn zu studieren. Sie war nicht mehr locker und freundlich, sondern in sich gekehrt und angespannt, und das spürte er stets, wenn sie in seine Nähe kam. Außerdem hatte sie jeden kleinsten körperlichen Kontakt mit ihm zu meiden begonnen.
Dansant wartete geduldig darauf, dass sie sich mit dem, was ihr Unbehagen bereitete, an ihn wandte, doch nachdem eine Woche vergangen war, ohne dass sich ihr Auftreten veränderte, begriff er, dass sie nicht vorhatte, sich ihm anzuvertrauen. Vielleicht war es die Atmosphäre in der Küche oder die Gegenwart der anderen Männer, doch woran es auch lag: Er beschloss, das Thema von sich aus anzuschneiden.
Dansant und Rowan waren nur zu einem Zeitpunkt unter sich: wenn er sie ins Büro rief, um ihr den Wochenlohn zu zahlen. Deshalb bat er sie, als sie erschien, die Tür hinter sich zu schließen und sich zu setzen.
»Was gibt’s, Chef?«, fragte sie und ließ sich auf der Stuhlkante nieder.
Er hatte tagelang überlegt, sie wieder in Bann zu schlagen, um die Wahrheit von ihr zu erzwingen, sich wegen der heiklen Augenblicke damals im Lagerraum aber dagegen entschieden.
»Morgen ist Ihr freier Abend«, sagte er. »Haben Sie schon was vor?«
»Ich muss ein paar Einkäufe erledigen, das ist alles.« Sie runzelte die Stirn. »Soll ich für jemanden einspringen?«
»Aber nein.« Er zog zwei Eintrittskarten hervor, die ihm eine dankbare Kundin für die Ausrichtung des Festessens zum dreißigsten Hochzeitstag gegeben hatte. »Ich gehe morgen Abend in die Oper und brauche eine
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