Schleier der Traeume
und Berührungen widerstehen. Sie treiben ungeniert Unzucht und respektieren die Bande der Ehe nicht, erst recht nicht die der Verlobung. Nichts kann ihr Fleisch verletzen außer Kupfer, das ihren Leib verbrennt wie Feuer. All ihre Wunden heilen, doch sie können – Dank sei Gott! – in die Hölle zurückgeschickt werden, indem man sie köpft
.
Sie las die Textstelle dreimal, bis sie begriff, was sie daran so faszinierte:
um die Sinne zu verwirren und mit wenigen Worten zu versklaven
.
Am Vorabend hatte Dansant jugendliche Schläger mit wenigen Worten daran gehindert, sie zu berauben. Die Jungs hatten die perfekte Gelegenheit gehabt, sie auszunehmen, aber ohne jeden Protest getan, was er ihnen sagte, und sich dabei verhalten wie Zombies.
Sie verglich, was sie über ihren neuen Chef wusste, mit der absurden Liste des ehemaligen Priesters.
Stark und schön – stimmt. Nach Blumen duftend – stimmt. Nimmt nur Wein zu sich …
Sie überflog den Rest des Buchs nach weiteren Listen und hielt erst inne, als sie den alten Kupferstich eines Tempelritters sah, der inmitten eines Schlachtfelds zu Pferd saß. Es war ein blutrünstiges Bild, denn der Boden ringsum war voller Leichen.
Das Gesicht des Tempelritters sah genauso aus wie das von Jean-Marc Dansant.
»Nein. Das kann er nicht sein.« Rowan schlug das Buch zu und dachte fieberhaft nach. Wochenlang hatte sie neben Dansant gearbeitet und ihm beim Kochen zugesehen, doch sie erinnerte sich nicht, dass er das Essen nur ein einziges Mal gekostet hatte. Auch beim Belegschaftsessen nahm er nie Speisen zu sich, sondern saß nur am Kopf der Tafel und trank ein Glas Wein. Und als sie ihm am Vorabend ihre Chinapfanne angeboten hatte, hatte er daran gerochen, aber nicht davon gekostet.
Und in der ganzen Zeit, die sie nun hier wohnte, hatte sie ihn nie tagsüber gesehen.
»Unsinn, er ist doch kein Vampir.« Das laut geäußert zu haben, machte es nicht besser. »Er arbeitet abends. Er sagt, es war Hypnose. Vielleicht hatte er keinen Hunger.«
Sie öffnete das Buch, besah sich erneut den Kupferstich und rieb sich gedankenverloren den Hals. Der Künstler hatte ungemein filigran gearbeitet, hatte mit winzigen Strichen Wimpern und Schnurrbart des Kriegers gezeichnet und genau dort einen Punkt auf die Kinnlinie gesetzt, wo Dansant ein winziges Muttermal besaß …
Verdammt
. Rowan sprang auf und rannte ins Bad.
Sie musterte Kehle und Arme, zog sich dann ganz aus und überprüfte sich am ganzen Körper. Weder Bissspuren noch andere Zeichen wiesen darauf hin, dass sie als Blutbank gedient hatte.
Natürlich gibt es keine Bissspuren
, säuselte die schleimige, bösartige Stimme in ihrem Kopf, während Rowan sich anzog.
Bei dir verheilt doch alles so schnell
.
Sie wusste nicht, was tun. Sie konnte schlecht zu ihrem Chef gehen und ihn fragen, ob er ein unsterblicher Killer war, der sich von Menschenblut nährte. Doch die »dunklen Verwandten« waren Realität, und was Matthias und sie ermittelt hatten, bewies, dass sie noch immer auf der ganzen Welt in Gruppen existierten und ein scheinbar normales Dasein führten, um vor aller Augen unerkannt zu leben.
Warum hätte keiner davon ein französisches Restaurant eröffnen sollen?
Wer eine Maus fangen will, stellt keine leere Falle auf, sondern legt einen Köder hinein, dem sie nicht widerstehen kann
.
Solche Spekulationen waren lächerlich. Sie brauchte einen Computer, um einige grundlegende Dinge über ihren Chef zu recherchieren. Seinen Hintergrund zu erhellen, würde sicher plausible Erklärungen für seine vielen Seltsamkeiten liefern und die Dinge klären.
Rowan betrat die nächstgelegene öffentliche Bibliothek. Dort herrschte viel Betrieb, doch zum Glück gab es frei zugängliche PC s. An einem davon nahm sie Platz, legte ihr Notizbuch neben sich und öffnete ihren E-Mail-Account. Ein Fenster mit rot blinkendem Rahmen sprang auf und informierte sie, dass die Speicherkapazität erschöpft war.
Dabei habe ich seit Wochen keine Mail geschrieben
, dachte sie verärgert und tippte ihr Passwort ein.
Bestimmt alles Spam
.
Es war kein Spam. Auf sie warteten über vierhundert Nachrichten, und die Liste der Absender las sich wie ein Mitgliederverzeichnis der Takyn: Romulus, Jezebel, Vulkan, Paracelsus, Delilah, Zephyr, Magdalena, Orion, Sapphira …
Ehe Rowan die erste Mail anklicken konnte, öffnete sich ein Chatfenster, und Paracelsus meldete sich.
P:
Der Narben lacht
…
Sie tippte die letzten vier Worte des Zitats ein, um
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