Schleier des Herzens (German Edition)
hat?«
Charis zuckte die Schultern. »Das wird vom Geschick deines Gatten abhängen. Wenn er seine Sinne auch nur einigermaßen bei sich hat, wird er Unwissen heucheln und dem Emir das Mädchen umgehend zum Geschenk machen ...«
»Aber sie hat einen Sohn«, gab Soraya zu bedenken.
»Da wird sich schon eine Lösung finden. Du hast dein Herz doch wohl nicht an den Kleinen gehängt, oder?«, fragte Charis spöttisch.
Soraya lächelte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als fielen Felsbrocken von ihrem Herzen. Gott hatte ihr einen unblutigen Weg gewiesen, der allen zum Vorteil gereichte. Mammar würde dem Emir einen Dienst erweisen und dafür unzweifelhaft belohnt werden. Beatriz würde in den Harem des Emir wechseln, und wenn er sie nicht mehr jeden Tag sah, würde Al Khadiz sie sicher auch bald vergessen. Soraya konnte sie loswerden, ohne sich zu versündigen, ohne Gefahr zu laufen, gefasst und getötet zu werden. Womöglich würde die Kastilierin sogar das Kind mitnehmen ... Ja, sie selbst würde sich dafür aussprechen. Schließlich war es ein Akt der Barmherzigkeit, man nahm einer Mutter keinen neugeborenen Säugling weg.
»Charis, ich danke dir! Du kannst nicht ermessen, wie sehr ich dir danke!« Soraya ließ eine schwere Goldmünze in die mit Tüchern verhängte Schale fallen, die Charis neben der Haustür aufgestellt hatte. Die Zauberin verlangte kein Geld für ihre Ratschläge, jede Frau gab soviel, wie sie erübrigen konnte.
Charis verbeugte sich leicht.
»Dankt nicht mir, dankt Allah! Und erweist einem Armen die Gunst, die Gott Euch erwiesen hat!« Charis küsste Soraya sanft auf beide Wangen und öffnete ihr die Türihrer Hütte. »Manchmal führen die Wege Allahs überverschlungene Pfade. Lasst Euch von Eurer Güte leiten, nicht von Eurem Hass.«
Soraya hätte lachen und tanzen können, als die Tür sich hinter ihr schloss.
»Nehmt den Weg durch die Sukhs!«, wies sie die Träger ihrer Sänfte ausgelassen an. »Wir haben es nicht eilig.«
Die Handelsviertel von Granada waren bunt und belebt und immer wieder eine Augenweide. Soraya fand, dass sie sich den Besuch der Märkte heute verdient hatte. Es war egal, ob sie vor oder nach ihrem Gatten nach Hause kam, und den Frauen im Harem konnte sie den Ausflug auch leicht mit Einkäufen erklären. Das war zwar ungewöhnlich, aber sollten sie ruhig darüber klatschen. Soraya hatte schließlich nichts Verbotenes getan!
Gehorsam trugen die Eunuchen die Sänfte durch die relativ ruhige Straße der Apotheker in die Gasse der Weber und über den Markt der Keramiker und Glasbläser. Diesmal schob Soraya die Vorhänge der Sänfte beiseite. Ihre schwere, dunkle Ausgehkleidung verdeckte sie ausreichend vor neugierigen Blicken. Dafür konnte sie herausspähen, das Angebot der Händler begutachten und auch ab und zu anhalten, um sich etwas zeigen zu lassen. Die Sayyida kaufte allerdings nichts direkt, sondern sprach nur Einladungen an die Händler aus, ihre Waren im Harem zu zeigen. In den nächsten Tagen würden die ausgewählten Tuchhändler und Kunsthandwerker in das Haus des Wesirs kommen, ihre Waren in einem der Höfe ausbreiten und damit allen Frauen den Einkauf ermöglichen. Die Mädchen im Harem würden entzückt sein. Soraya wusste, dass die hier getroffenen Arrangements ihren angeschlagenen Rangplatz in den Frauengemächern wieder deutlich heben würden.
Schließlich durchquerten die Sänftenträger den Sklavenmarkt. Soraya machte Anstalten, den Vorhang wiedervor die Sänfte zu ziehen. Der Sklavenmarkt, mit seinem Geruch von Schweiß, Angst und banger Erwartung, von enttäuschten Hoffnungen und neuen Möglichkeiten war kein schicklicher Aufenthaltsort für die Ehefrau eines Adligen.
Aber dann sah sie eine Szene, die ihre Aufmerksamkeit erregte.
Auf einem Podium kam es eben zur Versteigerung eines jungen Mannes – Soraya wusste nicht, warum er ihr auffiel, aber vielleicht war es sein weiches, braunes Haar, dessen Farbe sie an das ihres Sohnes erinnerte, oder sein verzweifelter Ausdruck, der wie ein fleischgewordener Hilfeschrei auf seinem Gesicht lag.
Der Jüngling war fast nackt. Mit gesenktem Blick, das Gesicht schamgerötet, hielt er die Hände vor das, was von seinem Geschlecht noch übrig war.
Ein Eunuch – und offensichtlich erst vor kurzem zu einem solchen gemacht. Bislang hatte der Körper des jungen Mannes noch nicht die für Kastraten typische, schwammig gedrungene Form angenommen. Man sah zwar bereits Ansätze zu weicheren Rundungen, aber
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