Schleier des Herzens (German Edition)
ein dunkelhaariger, schmaler Jüngling mit den klugen braunen Augen seiner Mutter, stopfte frustriert ein Stück Honigkuchen in den Mund. Soraya lächelte. Genau so hatte er es mit vier Jahren auch schon gehalten, wenn die Welt für ihn zu schwierig war.
»Ich bemühe mich wirklich, den Marstall in Ordnung zu halten, ich beaufsichtige das Füttern der Pferde, ihre Ausbildung – ich kaufe die erlesensten Tiere für die Garde des Emir. Aber Vater ist nie zufrieden. Hier gebe ich zu viel Geld aus, da habe ich einen günstigen Kauf verpasst, hier tanzt ein Pferd bei einer Übung aus der Reihe, und schon macht er mich dafür verantwortlich. Warum ist er so gereizt, Mutter?« Achmed leitete den Marstall der Alhambra, für einen so jungen Mann eine äußerst ehren- und anspruchsvolle Aufgabe. Nach allgemeiner Ansicht wurde er den Ansprüchen dabei sehr gut gerecht, der Emir selbst ließ seine Pferde von ihm reiten, wenn er keine Zeit hatte, die Tiere zu trainieren. Auch Mammar hatte bis vor kurzem ausschließlich lobend über ihn gesprochen. Aber jetzt hatte Mammar nur noch Beatriz im Kopf. Und Ali, Die Brücke zur Mutter führte über das Kind ...
Soraya hatte nicht die Absicht, ihren Sohn in die Probleme des Harems einzuweihen. Aber sie musste etwas tun.
Tröstend strich sie ihrem erwachsenen Sohn über das volle, dunkle Haar.
»Eine kleine Missstimmung. Dein Vater ist zurzeit etwas überarbeitet. Mach dir auf keinen Fall Sorgen, Achmed. Ich werde das regeln.«
Achtes Kapitel
Es kam selten vor, dass eine Frau den Harem verließ, aber freien Frauen wie Soraya war es auch nicht verboten. Insofern sorgte es zwar für etwas Aufregung und Irritation unter den Eunuchen, als Soraya einige Tage später nach einer Sänfte verlangte, aber niemand sah einen Anlass, ihr die Bitte zu verweigern.
»Wünscht Ihr vier oder sechs Träger, Sayyida?«, fragte der oberste Eunuch nur mit unterwürfiger Verbeugung.
»Um Allahs willen, höchstens vier! Es soll keine große Sache werden, ich will nur ... eine Freundin besuchen. Diskretion ist mir dabei wichtiger als repräsentatives Auftreten. Also nimm eine unauffällige Sänfte und ein paar zuverlässige Diener.« Soraya wählte sorgfältig ihre Kleidung aus und musterte ihre Auswahl an Tschadors.
»Ihr werdet allein reisen?«
Soraya nickte. »Ja, aber es wird keine ›Reise‹. Meine Freundin wohnt nur am anderen Ende der Stadt. Ich werde zurück sein, lange bevor die Sonne untergeht.«
Mit klopfendem Herzen zog sie den Tschador vors Gesicht, bevor der Eunuch womöglich die Aufregung und Sorge bemerkte, die sie mühsam unter ihrem herrischen Auftreten zu verbergen trachtete. Es war sehr wichtig, vor dem Sonnenuntergang zurück zu sein, genauer gesagt vor der Heimkehr ihres Herrn. Das Gelingen ihrer Unternehmung hing stark davon ab, wie unauffällig sie ihren Ausflug gestalten konnte. Es dürfte nicht im Harem herumgehen, niemand sollte neugierige Fragen stellen.
Natürlich würde Soraya Antworten bei der Hand haben, wenn es doch geschah. Eine ihrer Kusinen lebte in einem Harem in der Nähe ihres Ziels, sie konnte angeben, Amira sei erkrankt und sie habe nach ihr sehen wollen. Aber die Welt des Harems war klatschversessen und keineswegsso abgeschlossen, wie Außenstehende meinten. Eine gute Geschichte überwand jedes Gatter, und wenn die anderen Frauen erst mal anfingen, sich dafür zu interessieren, würden sie schnell herausfinden, dass Amira sich bester Gesundheit erfreute.
Zum Glück hatten Sorayas Gemächer ihren eigenen Eingang zur Außenwelt. Der erste Eunuch schloss ihn fraglos für sie auf, und die Sänfte wartete davor. Unauffällig bemannt, wie gewünscht. Vorn gab es nur einen Träger, einen überaus starken, aber etwas einfältigen jungen Nubier, hinten teilten sich zwei noch relativ neue Eunuchen die Arbeit. Die beiden waren erst vor wenigen Wochen aus Marokko importiert worden. Unmöglich, dass sie das Ziel des Ausflugs kannten und ausplauderten.
Soraya schloss die dicken Brokatvorhänge der Sänfte und lehnte sich in die weichen Kissen. Entspannen konnte sie sich jedoch nicht, dafür war ihre Aufgabe zu heikel und auch zu gefährlich. Ehefrau oder Konkubine, auf das, was Soraya hier plante, stand der Tod. Und das Gesetz wurde unnachgiebig eingehalten. Kein Haremsherr duldete Intrigen und Giftmischereien unter seinen Frauen. Bis vor wenigen Wochen hätte auch Soraya dies noch vehement abgelehnt. Als gläubige Müslimin war sie vom Gesetz der Sharia überzeugt.
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