Schlink,Bernhard
geworden sei, zum vierten Mal in
Folge. Er wurde in einen Warteraum gebeten, der Arzt werde gleich kommen,
setzte sich, stand auf, betrachtete die bunten Fotografien an den Wänden, fand
die Ruinen kambodschanischer und mexikanischer Tempel deprimierend, setzte
sich. Nach einer halben Stunde ging die Tür auf, und der Arzt begrüßte ihn. Er
war jung, energisch, fröhlich.
»Glück
im Unglück. Ihre Frau hat den rechten Arm vor ihre Tochter gehalten«, er
streckte den rechten Arm aus, »und, als ihre Tochter mit aller Wucht
dagegenstieß, gebrochen. Aber der Bruch ist glatt, und ihrer Tochter hat es
vielleicht das Leben gerettet. Ihre Frau hat außerdem drei gebrochene Rippen
und ein Schleudertrauma. Aber das heilt. Wir behalten sie nur ein paar Tage.«
Er lachte. »Es ist eine Ehre, die Trägerin des National Book Award zur Patientin zu haben, und es war mir eine besondere
Freude, der Überbringer der guten Nachricht zu sein. Ich habe sie gleich erkannt,
hätte mich aber fast nicht getraut, sie darauf anzusprechen - und dann wusste
sie noch gar nichts und hat sich gefreut.«
»Was
ist mit meiner Tochter?«
»Sie
hat eine Platzwunde an der Stirn, die wir geschlossen haben, und ruht. Wir
passen heute Nacht auf sie auf, und wenn nichts ist, können Sie sie morgen nach
Hause nehmen.«
Er
nickte. »Kann ich zu meiner Frau?«
»Ich
bringe Sie hin.«
Sie
lag im Einzelzimmer, Hals und rechten Arm in weißem Kunststoff. Der Arzt ließ
beide allein.
Er
rückte einen Stuhl ans Bett. »Herzlichen Glückwunsch zum Preis.«
»Du
hast es gewusst. Du warst fast jeden Tag in der Stadt, und wenn du in der Stadt
bist, liest du die New
York Times. Warum hast du nichts gesagt? Weil du kein erfolgreicher
Schriftsteller bist, darf ich es auch nicht sein?«
»Nein,
Kate, ich wollte nur unsere Welt hier zusammenhalten. Ich bin nicht
eifersüchtig. Du kannst so viele Bestseller ...«
»Ich
finde mich nicht besser als dich. Du verdienst den gleichen Erfolg, und mir tut
es leid, dass die Welt nicht gerecht ist und dir nicht den gleichen Erfolg
gibt. Aber ich kann darum nicht aufs Schreiben verzichten. Ich kann mich nicht
kleinmachen.«
»So
klein wie ich?« Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht, dass der Rummel
wieder losgeht, die Interviews und Talkshows und Partys und was weiß ich. Dass
es wieder wird, wie es war. Das halbe Jahr hier hat uns so gutgetan.«
»Ich
halte es nicht aus, wenn von mir nur noch der Schatten bleibt, der morgens an
den Schreibtisch verschwindet und abends mit dir vor dem Kamin sitzt und einmal
in der Woche Familie spielt.«
»Wir
sitzen nicht vor dem Kamin, wir reden, und wir spielen nicht Familie, wir sind
es.«
»Du
weißt, was ich meine. Was ich im letzten halben Jahr für dich war, hätte jede
Frau sein können, die sich mit sich selbst beschäftigt, nicht viel redet und
nachts gerne kuschelt. Ich kann nicht mit einem Mann leben, der vor lauter
Eifersucht nur das von mir übriglassen will. Oder der nur das liebt.«
»Was
soll das heißen?«
»Wir
verlassen dich. Wir ziehen...«
»Ihr?
Du und Rita? Rita, die ich gewickelt und gewaschen und für die ich gekocht und
der ich lesen und schreiben beigebracht habe? Die ich gepflegt habe, wenn sie
krank war? Kein Richter wird Rita dir zusprechen.«
»Nach
deinem Anschlag heute?«
»Meinem
Anschlag...« Er schüttelte wieder den Kopf. »Das war kein Anschlag. Ich habe
nur versucht, alles abzusperren, das Telefon und das Internet und eben auch
die Straße.«
»Es
war ein Anschlag, und der Fahrer, der mich hergebracht hat, wird den Sheriff benachrichtigen.«
Er
hatte mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf auf dem Stuhl gesessen. Jetzt
richtete er sich auf. »Ich habe unser Auto flottgemacht, ich bin damit
hierhergefahren, und die Absperrung ist weg. Alles, was der Sheriff herausfinden wird, ist, dass du mit unserer Tochter ohne
Kindersitz und ohne Sicherheitsgurt gefahren bist.« Er sah seine Frau an. »Kein
Richter wird dir Rita geben. Du musst schon bei mir bleiben.«
Wie
sah sie zurück? Hasserfüllt? Das konnte nicht sein. Begriffsstutzig. Nicht der
gebrochene Arm und die gebrochenen Rippen taten ihr weh. Was ihr weh tat, war,
dass er ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Sie wollte nicht begreifen,
dass sie ihre Rechnungen nicht ohne ihn machen konnte. Es wurde Zeit, dass sie
es endlich lernte. Er stand auf. »Ich liebe dich, Kate.«
Mit
welchem Recht sah sie ihn entsetzt an? Mit welchem Recht sagte sie zu ihm: »Du
bist verrückt
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