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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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eines Regierungsprogramms nach Welch geschickt worden, um im ländlichen Appalachia für kulturellen Aufschwung zu sorgen. Sie hießen Ken Fink und Bob Gross.
    Ken und Bob redeten wie ein Wasserfall, und ständig ließen sie Namen wie Stanley Kubrick und Woody Allen fallen, die ich noch nie gehört hatte, sodass ich ihnen manchmal kaum folgen konnte. Sie waren außerdem richtige Spaßvögel, auch wenn es nicht die Art von Humor war, die ich von der Highschool kannte, wo man sich Polenwitze erzählte und die Jungs mit der hohlen Hand unter den Achseln Furzgeräusche machten. Ken und Bob dagegen lieferten sich richtige Witzschlachten; einer machte eine Bemerkung, und der andere konterte, woraufhin der Erste noch einen draufsetzte. In dem Stil ging es manchmal weiter, bis sich mir der Kopf drehte.
    An einem Wochenende zeigten Ken und Bob einen schwedischen Film in der Schulaula. Es war ein Schwarzweißfilm mit Untertiteln und symbolträchtiger Handlung, weshalb nicht mal ein Dutzend Schüler kamen, obwohl der Film kostenlos war. Irgendwann zeigte Lori den beiden ein paar von ihren Illustrationen. Sie sagten, sie habe Talent, und wenn es ihr ernst damit sei, Künstlerin zu werden, müsse sie nach New York gehen. Das sei eine Stadt voller Energie und Kreativität und intellektueller Stimulation, wie wir garantiert noch keine gesehen hätten. Und es lebten viele Menschen dort, die einfach nirgendwo anders hinpassten, weil sie so einzigartige Individuen seien.
    Am Abend lagen Lori und ich in unseren Seilbetten und sprachen über New York. Nach dem, was ich so alles gehört hatte, musste es eine große, laute Stadt sein, mit verpesteter Luft und Massen von Geschäftsleuten, die sich auf den Bürgersteigen gegenseitig anrempelten. Aber Lori sah New York auf einmal als eine Art smaragdene Stadt - als einen hellen,
    lebendigen Ort am Ende einer langen Straße, wo sie endlich der Mensch werden konnte, der sie sein wollte.
    An Ken und Bobs Beschreibung von New York gefiel Lori vor allem, dass die Stadt Menschen anlockte, die anders waren. Lori war so anders, wie man es in Welch nur sein konnte. Während ihre Altersgenossen Jeans, Converse-Turnschuhe und T-Shirts trugen, kreuzte sie in Armeestiefeln, einem weißen Kleid mit roten Punkten und einer Jeansjacke auf, auf die sie hinten ein unheilschwangeres Gedicht gepinselt hatte. Die anderen warfen mit Seife nach ihr, schubsten sich ihr gegenseitig in den Weg und schrieben Sprüche über sie an die Toilettenwände. Sie wiederum beschimpfte sie auf Lateinisch.
    Zu Hause las und malte Lori bis spät in die Nacht, oft bei Kerzenlicht oder im Schein der Kerosinlampe, wenn der Strom mal wieder abgestellt war. Sie mochte gruselige Details: Nebelschwaden über einem stillen See, knorrige Wurzeln, die sich aus der Erde hoben, eine einsame Krähe in den Ästen eines kahlen Baumes am Ufer. Ich hielt Lori für außergewöhnlich und war mir sicher, dass sie eine erfolgreiche Künstlerin werden würde, wenn sie nach New York ging. Ich beschloss, auch dorthin zu gehen, und im Laufe des Winters entwickelten wir einen Plan. Lori würde im Juni nach ihrem Schulabschluss allein nach New York aufbrechen. Sie würde dort Fuß fassen, eine Wohnung für uns suchen, und ich würde so bald wie möglich nachkommen.
    Ich erzählte Lori von meiner Fluchtkasse, den hundertfünfzig Dollar, die ich bisher gespart hatte. Von nun an, sagte ich, wäre es unsere gemeinsame Kasse. Wir würden nach der Schule jobben und alles, was wir verdienten, ins Sparschwein stecken. Lori könnte mit dem Geld nach New York gehen und sich als Künstlerin einen Namen machen, und wenn ich dann nachkäme, wäre alles klar.
    Lori hatte schon etliche tolle Plakate gemacht, für Football-Matches und Aufführungen der Theatergruppe und für die Kandidaten bei der Schulsprecherwahl. Jetzt bot sie welche für einen Dollar fünfzig das Stück an. Sie war zu schüchtern, um Aufträge einzuholen, also erledigte ich das für sie. Viele Jugendliche an unserer Highschool wollten auf sie persönlich zugeschnittene Poster, die sie in ihrem Zimmer aufhängten: Plakate mit dem Namen des Freundes oder der Freundin drauf, vom eigenen Auto oder von Sternzeichen oder von der Lieblings-Popgruppe. Lori zeichnete die Namen in großen, fetten, ineinander greifenden dreidimensionalen Buchstaben wie die auf Rockalben, malte sie dann in Neonfarben aus und zog die Konturen mit Tusche nach, sodass die Buchstaben richtig knallig wirkten. Anschließend umgab sie

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