Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
Vom Netzwerk:
letzten Prügel hatte Dad bei mir richtig den Charmeur raushängen lassen, und obwohl ich vorhatte wegzugehen, konnte er mich noch immer zum Lachen bringen, wenn er wollte, und er sah in mir nach wie vor eine Verbündete. Aber jetzt hätte ich ihm am liebsten eins über den Schädel gezogen. »Du hast unser Geld genommen«, sagte ich. »Das ist passiert.«
    »Na, das ist doch wohl die Höhe«, sagte Dad. Er jammerte los, dass ein Mann, der nach Hause kommt, nachdem er Drachen getötet hat, damit seine Familie in Sicherheit ist, für seine Mühsal und Aufopferung nicht mehr erwartet als ein bisschen Liebe und Respekt, aber das sei ja heutzutage offenbar schon zu viel verlangt. Er sagte, er habe unser New-York-Geld nicht genommen, aber wenn Lori unbedingt in diesem Sündenpfuhl leben wollte, würde er ihr die Reise finanzieren.
    Er griff in seine Hosentasche und holte ein Bündel Dollarscheine heraus. Wir starrten ihn bloß an, also ließ er das zerknitterte Geld zu Boden fallen. »Macht, was ihr wollt«, sagte er.
    »Warum tust du uns das an, Dad?«, fragte ich. »Warum?«
    Sein Gesicht verhärtete sich vor Zorn, dann schwankte er zum Sofa und schlief auf der Stelle ein.
    »Ich komm nie hier raus«, sagte Lori. »Ich komm nie hier raus.«
    »Doch, das wirst du«, sagte ich. »Ganz bestimmt.« Und ich war fest davon überzeugt. Weil ich wusste, wenn Lori es nicht schaffte, aus Welch rauszukommen, dann ich auch nicht.
    Am nächsten Tag ging ich zu G. C. Murphy und sah mir das Regal mit den Sparschweinen an. Sie waren alle aus Plastik oder Porzellan oder Glas, leicht zerbrechlich. Dann nahm ich ein paar abschließbare Metallschatullen in Augenschein. Die Scharniere waren zu schwach. Dad könnte sie mühelos aufbrechen. Stattdessen kaufte ich einen blauen Geldbeutel mit Schlaufe. Ich trug ihn ständig an einem Gürtel unter der Kleidung. Wenn er zu voll wurde, steckte ich das Geld in einen Socken, den ich in einem Loch in der Wand unter meinem Bett versteckte.
    Wir fingen wieder an zu sparen, aber Lori war so niedergeschlagen, dass sie kaum Plakate malte. Das Geld kam also nicht schnell herein. Eine Woche vor Schulende hatten wir erst 37,20 Dollar im Socken. Dann sagte eine von den Frauen, für die ich babysittete, eine Lehrerin namens Mrs. Sanders, sie und ihre Familie würden zurück nach Iowa in ihre Heimatstadt ziehen, und sie fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, die Sommerferien bei ihnen zu verbringen. Wenn ich ihr dort mit den beiden Kleinen helfen würde, würde sie mir anschließend zweihundert Dollar zahlen und eine Busfahrkarte zurück nach Welch spendieren.
    Ich ließ mir das Angebot einen Moment durch den Kopf gehen. »Nehmen Sie Lori an meiner Stelle mit«, sagte ich. »Und kaufen Sie ihr anschließend eine Fahrkarte nach New York.«
    Mrs. Sanders war einverstanden.
    Am Morgen von Loris Abreise hingen tiefe blaugraue Wolken an den Gipfeln der Berge um Welch. Sie waren fast jeden Morgen dort, und als sie mir auffielen, wurde mir wieder mal bewusst, wie isoliert und vergessen die Stadt war, ein trauriger, verlorener Ort, hilflos hoch oben in den Wolken. Gegen Mittag, wenn die Sonne endlich über die steilen Hänge hervorlugte, war der Himmel meist klar, aber an manchen Tagen, wie an dem Tag, als Lori abfuhr, klebten die Wolken an den Bergen, und im Tal bildete sich ein feiner Dunst, der sich feucht auf Haare und Gesicht legte.
    Als die Familie Sanders mit ihrem Kombi kam, war Lori startklar. Sie hatte ihre Anziehsachen, ihre Lieblingsbücher und ihre Kunstutensilien in einen einzigen Pappkarton gepackt. Sie umarmte uns alle bis auf Dad - sie hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen, seit er Oz geschlachtet hatte -, versprach zu schreiben und stieg in den Kombi ein.
    Wir standen da und sahen dem Auto nach, als es die Little Hobart Street hinunterfuhr. Lori blickte kein einziges Mal zurück. Ich fasste das als ein gutes Zeichen auf. Als ich die Treppe zum Haus hochging, stand Dad auf der Veranda und rauchte eine Zigarette.
    »Unsere Familie bricht auseinander«, sagte er.
    »Worauf du dich verlassen kannst«, erwiderte ich.
    Als ich im Herbst desselben Jahres in die zehnte Klasse kam, ernannte mich Miss Bivens zur Nachrichtenredakteurin der Maroon Wave. In der siebten war ich Korrekturleserin gewesen, in der achten hatte ich das Layout gemacht und in der neunten Klasse erste Artikel geschrieben und Fotos geschossen. Mom hatte sich eine Minolta gekauft, um von ihren Bildern Fotos zu machen, die sie Lori schicken

Weitere Kostenlose Bücher