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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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kellnerte in einem deutschen Restaurant und nahm Kunstkurse und sogar Fechtstunden. Sie hatte schon die verrücktesten Leute kennen gelernt, lauter Wahnsinnsgenies. Die Leute in New York waren so wild auf Kunst und Musik, sagte sie, dass Künstler auf den Bürgersteigen ihre Bilder verkauften, während gleich daneben ein Streichquartett Mozart spielte. Auch der Central Park war gar nicht so gefährlich, wie die Leute in West Virginia meinten. An jedem Wochenende wimmelte es dort nur so von Rollschuhläufern und Frisbee-Spielern, Jongleuren und Pantomimen mit weiß geschminkten Gesichtern. Sie wusste, dass ich es toll finden würde, wenn ich käme. Ich wusste es auch.
    Seit ich in der elften Klasse war, zählte ich die Monate -zweiundzwanzig -, bis ich zu Lori konnte. Gleich nach meinem Schulabschluss würde ich nach New York ziehen, mich an einem College einschreiben und mir dann einen Job bei AP oder UPI beschaffen, den Nachrichtenagenturen, deren Meldungen in der Redaktion der Welch Daily News von den Fernschreibern ausgespuckt wurden, oder bei einer von den berühmten New Yorker Zeitungen. Manchmal bekam ich mit, wenn die Reporter bei den Welch Daily News Witze rissen über die eingebildeten Schreiberlinge, die für die Zeitungen arbeiteten. Ich war entschlossen, auch so einer zu werden.
    Mitten im Schuljahr ging ich zu Miss Katona, der Vertrauenslehrerin, und bat sie um die Namen der Colleges in New York. Miss Katona hob die Brille, die sie an einer Kordel um den Hals baumeln hatte, und blickte mich durchdringend an. Das College Bluefield State sei nur sechsunddreißig Meilen entfernt, sagte sie, und mit meinen Noten würde ich bestimmt ein Vollstipendium erhalten.
    »Ich möchte aber in New York studieren«, sagte ich.
    Miss Katona zog verwirrt die Stirn kraus. »Wieso denn das?«, fragte sie.
    »Ich möchte dort leben.«
    Miss Katona sagte, das sei ihrer Ansicht nach eine schlechte Idee. Es wäre leichter, in dem Bundesstaat zu studieren, in dem man auf die Highschool gegangen war, erklärte sie. Als Bürger des jeweiligen Staates habe man bessere Chancen, aufgenommen zu werden, und auch die Studiengebühren seien niedriger.
    Ich dachte kurz darüber nach. »Dann ist es vielleicht besser, wenn ich gleich nach New York gehe und dort meinen Highschool-Abschluss mache«, sagte ich. »Damit ich schon Bürgerin von New York bin.«
    Miss Katona blickte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Aber du lebst hier«, sagte sie. »Du bist hier zu Hause.«
    Miss Katona war eine feingliedrige Frau, die stets hochgeschlossene Pullover und feste Schuhe trug. Sie war in Welch auf der Highschool gewesen, und es war ihr anscheinend nie in den Sinn gekommen, woanders zu leben. Aus West Virginia, sogar aus Welch wegzuziehen wäre in ihren Augen undenkbar illoyal gewesen, als würde man die eigene Familie im Stich lassen.
    »Nur weil ich jetzt hier lebe«, sagte ich, »heißt das doch nicht, dass ich nicht wegziehen kann.«
    »Das wäre ein schrecklicher Fehler. Stell dir vor, was dir alles fehlen würde. Deine Familie und deine Freunde. Und die zwölfte Klasse ist der Höhepunkt deiner ganzen Schullaufbahn. Du würdest den Oberstufentag verpassen. Du würdest den Abschlussball verpassen.«
    Nach der Schule ging ich langsam über die Old Road nach Hause und dachte darüber nach, was Miss Katona gesagt hatte. Es stimmte, viele Erwachsene schwärmten noch vom Oberstufenfest ihrer Highschool. Am Oberstufentag, eine Erfindung der Schule, damit die Jüngeren nicht das Handtuch warfen, zogen die Zwölftklässler witzige Klamotten an und schwänzten den Unterricht. Nicht gerade ein zwingender Grund, noch ein Jahr länger in Welch zu bleiben. Und was den Abschlussball betraf, standen meine Chancen, einen Jungen dafür zu finden, ungefähr genauso gut wie die von Dad, die Korruption in der Bergwerksgewerkschaft zu beenden.
    Als ich zu Miss Katona gesagt hatte, ich sollte vielleicht besser ein Jahr früher nach New York gehen, war das rein hypothetisch gewesen. Doch auf einmal wurde mir klar, dass ich es ja einfach nur zu machen brauchte, wenn ich wollte. Vielleicht nicht gleich, nicht mitten im Schuljahr, aber sobald ich mit der elften Klasse fertig war. Dann wäre ich siebzehn. Mit Babysitten und Hausaufgabenmachen für andere Schüler hatte ich schon fast hundert Dollar gespart, was für den Anfang in New York reichen würde. Ich könnte Welch in weniger als fünf Monaten Lebewohl sagen.
    Plötzlich war ich so aufgeregt, dass ich anfing

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