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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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ja nicht gleich gehen«, sagte Dad. Ich könnte doch meinen Schulabschluss in Welch machen und dann aufs College in Bluefield gehen, wie Miss Katona vorgeschlagen hatte, und danach bei der Welch Daily News anfangen. Er würde mir bei den Artikeln helfen, so wie er mir bei dem Interview mit Chuck Yeager geholfen hatte. »Und ich baue das Glasschloss, Ehrenwort. Und wir wohnen alle zusammen darin. Das ist doch um Klassen besser als jede Wohnung, die du je in New York findest, das garantier ich dir.«
    »Dad«, sagte ich, »sobald ich die letzte Schulstunde in diesem Jahr hinter mir habe, steige ich in den nächsten Bus, der hier rausfährt. Wenn der Busverkehr bis dahin eingestellt sein sollte, fahr ich per Anhalter. Ich gehe auch zu Fuß, wenn es sein muss. Bau von mir aus das Glasschloss, aber nicht für mich.«
    Dad rollte die Entwürfe zusammen und ging aus dem Zimmer. Gleich darauf hörte ich ihn den Hang hinunterlaufen.
    Der Winter war mild gewesen, und es wurde früh Sommer in den Bergen. Schon Ende Mai standen die Tränenden Herzen und Rhododendronbüsche an den Hängen in voller Blüte, und der Duft von Geißblatt wehte in unser Haus. Noch vor Beginn der Ferien hatten wir die ersten richtig heißen Tage.
    In den letzten zwei Wochen erlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Mal war ich völlig begeistert, dann nervös, daraufhin packte mich die nackte Panik, die gleich darauf wieder in Begeisterung umschlug, und das alles innerhalb weniger Minuten. Am letzten Schultag räumte ich meinen Spind leer und ging mich von Miss Bivens verabschieden.
    »Ich bin ganz zuversichtlich, was dich angeht«, sagte sie. »Ich denke, du wirst in New York deinen Weg machen. Aber ich hab jetzt ein großes Problem. Wer soll nächstes Jahr bei der Wave deine Arbeit machen?«
    »Sie finden bestimmt jemanden.«
    »Ich hab schon daran gedacht, deinen Bruder zu fragen.«
    »Dann denken die Leute vielleicht, die Familie Walls baut eine Dynastie auf.«
    Miss Bivens schmunzelte. »Vielleicht ist da ja was dran.«
    Abends machte Mom den Koffer leer, in dem sie ihre Sammlung Tanzschuhe aufbewahrte, und ich füllte ihn mit meinen Anziehsachen und dem Aktenordner mit meinen Ausgaben von der Maroon Wave. Ich wollte alles aus der Vergangenheit hinter mir lassen, sogar die guten Sachen, deshalb schenkte ich Maureen meine Geode. Der Stein war verstaubt und matt, aber ich sagte Maureen, wenn sie richtig fest dran rieb,
    würde er wie ein Diamant funkeln. Als ich die Holzkiste an der Wand neben meinem Bett leerte, sagte Brian: »Weißt du, was? In einem Tag bist du in New York.« Dann ahmte er Frank Sinatra nach, sang völlig schräg »New York, New York« und machte dabei seinen Cooler-Typ-Tanz.
    »Klappe, du Blödmann!«, sagte ich und schlug ihm fest auf die Schulter.
    »Selber Blödmann!«, sagte er und schlug mich ebenso fest. Wir tauschten noch ein paar Schläge mehr aus und blickten uns dann verlegen an.
    Der einzige Bus, der von Welch abfuhr, ging morgens um sieben Uhr zehn. Ich musste vor sieben am Busbahnhof sein. Mom sagte, da sie von Natur aus keine Frühaufsteherin sei, würde sie nicht aufstehen, um sich von mir zu verabschieden. »Ich weiß, wie du aussiehst, und ich weiß, wie der Busbahnhof aussieht«, sagte sie. »Und große Abschiedsszenen sind mir zu sentimental.«
    Ich machte in der Nacht kaum ein Auge zu. Brian auch nicht. Hin und wieder durchbrach er die Stille und verkündete, ich würde Welch in sieben Stunden verlassen, ich würde Welch in sechs Stunden verlassen, und wir prusteten beide los. Schließlich schlief ich ein, bis Brian, der genau wie Mom eigentlich kein Frühaufsteher war, mich im Morgengrauen weckte. »Jetzt wird's ernst«, sagte er. »In zwei Stunden bist du weg.«
    Dad war in der Nacht nicht nach Hause gekommen, aber als ich mit meinem Koffer durch das hintere Fenster kletterte, sah ich ihn unten auf den Steinstufen sitzen und eine Zigarette rauchen. Er bestand darauf, meinen Koffer zu tragen, und wir gingen zusammen die Little Hobart Street hinunter.
    Die menschenleeren Straßen waren feucht. Ab und zu blickte Dad mich an und zwinkerte, oder er schnalzte mit der Zunge, als ob ich ein Pferd wäre und er mich antreiben wollte. Anscheinend hatte er das Gefühl, etwas zu tun, was ein Vater tun sollte, nämlich seiner Tochter Mut machen, ihr ein wenig die Angst vor den Schrecken des Unbekannten nehmen.
    Als wir am Busbahnhof waren, wandte Dad sich mir zu. »Schätzchen, das Leben in New York ist vielleicht nicht

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