Schloss aus Glas
Nachbarschaft wohnte, sagte Billy zu mir, er wolle mir etwas richtig Lustiges zeigen.
»Falls es eine gehäutete Katze ist, will ich es nicht sehen«, sagte ich.
»Nee, so was doch nicht«, sagte er. »Es ist richtig lustig. Du lachst dich weg. Versprochen. Außer du hast Angst.«
»Warum sollte ich Angst haben?«, sagte ich.
Die lustige Sache, die Billy mir zeigen wollte, war bei ihm zu Hause, und dort war es dunkel, und es roch nach Pipi, und es war sogar noch unaufgeräumter als bei uns, aber anders. Bei uns war immer alles voll mit allem möglichen Kram: Zeitungen, Bücher, Werkzeug, Holz, Gemälde, Kunstutensilien und Statuen von der Venus von Milo, die in verschiedenen Farben bemalt waren. Bei Billy zu Hause war praktisch nichts. Keine Möbel. Nicht mal Holzspulentische. Es gab nur einen Raum mit zwei Matratzen auf dem Boden neben dem Fernseher. Es hing auch nichts an den Wänden - kein einziges Gemälde, keine Zeichnung. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke, direkt neben drei oder vier Fliegenfängern, die so dick mit Fliegen bedeckt waren, dass die klebrige gelbe Oberfläche darunter nicht mehr zu sehen war. Leere Bierdosen und Whiskeyflaschen und ein paar angebrochene Wiener-Würstchen-Dosen lagen verteilt auf dem Boden herum. Auf einer Matratze schnarchte Billys Vater ungleichmäßig vor sich hin. Sein Mund stand offen, und in seinem Stoppelbart hatten sich Fliegen gesammelt. Ein nasser Fleck, der bis zu den Knien reichte, zeichnete sich dunkel auf seiner Hose ab. Der Reißverschluss war offen, und sein ekliger Penis hing seitlich heraus.
»Wo ist denn die lustige Sache?«, fragte ich.
»Hast du nicht gesehen?«, sagte Billy und zeigte auf seinen Dad. »Er hat sich vollgepinkelt!« Billy fing an zu lachen.
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. »Man darf nicht über seinen Vater lachen«, sagte ich zu ihm. »Niemals.«
»Ach komm, tu doch nicht so fein«, sagte Billy. »Du bist auch nichts Besseres als ich. Ich weiß nämlich, dass dein Dad genauso ein Säufer ist wie meiner.«
In dem Moment hasste ich Billy aus tiefstem Herzen. Ich hätte ihm am liebsten von den binären Zahlen und dem
Schloss aus Glas und der Venus und all den Dingen erzählt, weswegen mein Dad etwas Besonderes war und ganz anders als sein Dad, aber ich wusste, dass Billy das nicht verstehen würde. Ich wollte nur noch wegrennen, aber dann blieb ich stehen und drehte mich um.
»Mein Daddy ist ganz anders als dein Daddy!«, schrie ich. »Wenn mein Daddy umkippt, bepinkelt er sich nie!«
Am selben Abend beim Essen erzählte ich den anderen von Billy Deels widerlichem Dad und von der hässlichen Hütte, in der sie wohnten.
Mom ließ ihre Gabel sinken. »Jeannette, du enttäuschst mich«, sagte sie. »Du könntest etwas mehr Mitgefühl zeigen.«
»Wieso denn?«, fragte ich. »Er ist böse. Er ist ein Verbrecher.«
»Kein Kind wird als Verbrecher geboren«, sagte Mom. Nur wer als Kind nicht geliebt wurde, so erklärte sie, laufe Gefahr, kriminell zu werden. Aus ungeliebten Kindern würden als Erwachsene Serienkiller oder Alkoholiker. Mom warf Dad einen bedeutungsvollen Blick zu, dann sah sie mich wieder an. Sie sagte, ich solle versuchen, netter zu Billy zu sein. »Er hat nicht so viele Vorteile wie ihr hier«, sagte sie.
Als ich Billy das nächste Mal sah, sagte ich ihm, dass ich mit ihm befreundet sein könnte - aber nicht mit ihm gehen wollte -, wenn er versprach, sich nicht mehr über seinen Dad lustig zu machen. Billy versprach es, wollte jedoch unbedingt mein richtiger Freund sein. Er sagte, wenn ich mit ihm gehen würde, dann würde er mich immer beschützen und dafür sorgen, dass mir nichts Schlimmes passierte, und er würde mir teure Geschenke kaufen. Aber wenn ich Nein sagte, würde mir das noch Leid tun. Ich erwiderte, wenn er nicht einfach nur mit mir befreundet sein wollte, dann eben nicht, ich hätte keine Angst vor ihm.
Etwa eine Woche später verbrannte ich mit einigen anderen Kindern aus dem Gleisviertel Abfall in einer großen, rostigen Mülltonne. Um das Feuer in Gang zu halten, warfen wir immer wieder trockenes Reisig und Stücke von alten Autoreifen hinein, und wir jubelten, wenn der Qualm, der uns in der Nase brannte, in dichten schwarzen Schwaden in die Luft stieg. Billy kam zu mir, fasste meinen Arm und zog mich von den anderen Kindern weg.
Er kramte in seiner Hosentasche und zog schließlich einen silbernen Türkisring hervor. »Der ist für dich«, sagte er.
Ich nahm den Ring und
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