Schloss aus Glas
mit, dass Lori eine Brille brauche.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Mom. Sie hielt nämlich nichts von Brillen. Wer schwache Augen hatte, musste sie ihrer Meinung nach trainieren, damit sie besser wurden. Für sie waren Brillen das Gleiche wie Krücken. Sie verhinderten, dass Menschen mit schlechten Augen lernten, die Welt ohne fremde Hilfe zu sehen. Jahrelang hätte man sie dazu bringen wollen, eine Brille zu tragen, und sie hätte sich standhaft geweigert. Aber die Krankenschwester schickte noch einen
Brief, in dem sie schrieb, dass Lori die Emerson-Schule nur besuchen dürfe, wenn sie eine Brille trug, und dass die Schule die Kosten übernehmen würde, also gab Mom nach.
Als die Brille fertig war, gingen wir alle zusammen zum Optiker. Die Gläser waren so dick, dass Loris Augen dahinter viel zu groß aussahen, wie die Glubschaugen eines Fisches. Sie bewegte unablässig den Kopf hin und her und rauf und runter.
»Was hast du?«, fragte ich. Anstatt zu antworten, rannte Lori nach draußen. Ich hinterher. Sie stand auf dem Parkplatz und starrte ehrfürchtig die Bäume, die Wohnhäuser und die Bürogebäude dahinter an.
»Siehst du den Baum da?«, sagte sie und deutete auf eine Platane in etwa dreißig Meter Entfernung. Ich nickte.
»Ich kann aber nicht nur den Baum sehen, ich kann sogar die einzelnen Blätter sehen.« Sie schaute mich triumphierend an. »Kannst du das auch?«, fragte sie.
Ich nickte.
Sie schien mir nicht zu glauben. »Die einzelnen Blätter? Ich meine, nicht bloß die Äste, sondern jedes kleine Blättchen?«
Ich nickte. Lori blickte mich einen Moment lang an und brach dann in Tränen aus.
Auf dem Nachhauseweg nahm Lori ständig all die Dinge zum ersten Mal wahr, die von den meisten Menschen schon nicht mehr registriert wurden, weil sie sie tagtäglich sahen. Sie las Straßenschilder und Reklametafeln vor. Sie freute sich über die Spatzen, die auf den Telefonleitungen hockten. Wir gingen in eine Bank, und sie bestaunte das Deckengewölbe und beschrieb die achteckigen Muster.
Zu Hause wollte Lori unbedingt, dass ich ihre Brille ausprobierte. Dann wüsste ich, wie die Welt mit ihren Augen bisher ausgesehen hatte, denn mit Brille würde ich alles so unscharf sehen wie sie ohne. Ich setzte die Brille auf, und alles verschwamm zu unscharfen Klecksen und Formen. Ich machte ein paar Schritte und stieß mir das Schienbein am
Couchtisch. Da begriff ich plötzlich, warum Lori nicht so gern Streifzüge unternommen hatte wie Brian und ich. Sie hatte nichts sehen können.
Lori wollte, dass auch Mom ihre Brille ausprobierte. Mom setzte sie auf und schaute sich blinzelnd im Zimmer um. Sie studierte wortlos eines ihrer Gemälde und gab Lori dann die Brille zurück.
»Hast du besser sehen können?«, fragte ich.
»Ich würde nicht sagen, besser«, entgegnete Mom. »Ich würde sagen, anders.«
»Vielleicht solltest du auch eine tragen, Mom.«
»Mir gefällt die Welt so, wie ich sie sehe«, sagte sie.
Aber Lori war glücklich darüber, die Welt zum ersten Mal klar und deutlich sehen zu können. Sie fing an, wie besessen all die herrlichen Dinge zu malen und zu zeichnen, die sie neu entdeckte, zum Beispiel den geschwungenen Schatten, den jede einzelne Dachpfanne des Schulgebäudes auf die Dachpfanne darunter warf, oder die Wolken, die von der untergehenden Sonne unten rosa gefärbt wurden, oben dagegen, wo sie bauschig waren, dunkelrot.
Kurz nachdem Lori ihre Brille hatte, beschloss sie, Künstlerin zu werden, wie Mom.
Sobald wir uns in dem Haus auf der North Third Street eingelebt hatten, machte sich Mom voller Elan an ihre Künstlerkarriere. Vor dem Haus stellte sie ein großes weißes Schild auf, worauf sie sorgfältig mit schwarzen, goldumrandeten Lettern »R. M. Walls Art Studio« gemalt hatte. Die beiden vorderen Räume des Hauses verwandelte sie in ein Atelier und eine Galerie, und die beiden hinteren Schlafzimmer benutzte sie als Lager für ihre gesammelten Werke. Der Künstlerbedarfsladen Utrecht Art Supplies lag nur drei Häuserblocks weiter auf der North First Street, und dank des Geldes, das wir von Grandma geerbt hatten, konnten wir dort regelmäßig einkaufen. Wir brachten dicke Rollen Leinwand nach Hause, die Dad auf Holzrahmen spannte. Wir kauften auch Ölfarben, Wasserfarben, Acrylfarben, Grundierung, einen Siebdruckrahmen, Tusche, Pinsel und Schreibfedern, Kohlestifte, Pastellfarben, edles Hadernpapier für Pastellzeichnungen und sogar eine Holzpuppe mit beweglichen Gelenken, die
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