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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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wir Edward nannten und die, wie Mom sagte, ihr Modell stehen würde, wenn wir Kinder in der Schule waren.
    Mom meinte, dass sie eine umfangreiche Kunstmotiv-Handbibliothek zusammenstellen müsse, ehe sie ernsthaft mit dem Malen anfangen könne. Sie kaufte Dutzende von großen Ordnern und stapelweise liniertes Papier. Jedes Motiv bekam einen eigenen Ordner: Hunde, Katzen, Pferde, Farmtiere, Waldtiere, Blumen, Früchte und Gemüse, Naturlandschaften, Stadtlandschaften, Männergesichter, Frauengesichter, Männerkörper, Frauenkörper und Hände, Füße, Hintern und diverse andere Körperteile. Stundenlang durchforsteten wir alte Illustrierte nach interessanten Bildern, und wenn wir eins fanden, das sich unserer Meinung nach als Motiv für ein Gemälde eignete, hielten wir es hoch, damit Mom es begutachten konnte. Mom studierte es kurz und segnete es dann entweder ab oder verwarf es. Falls das Foto den Test bestand, schnitten wir es aus, klebten es auf ein Blatt liniertes Papier und versahen die Löcher im Blatt mit selbstklebenden Lochverstärkern, damit die Seite nicht rausriss. Dann holten wir den entsprechenden Ordner, hefteten das neue Foto ein und ließen den Hebelverschluss zuklappen. Als Dank für unsere Mithilfe bei ihrer Handbibliothek erteilte Mom uns Kunstunterricht.
    Mom arbeitete außerdem eifrig an ihrer Schriftstellerkarriere. Sie kaufte mehrere Schreibmaschinen - mechanische und elektrische -, damit sie Ersatz hatte, falls ihre Lieblingsmaschine kaputtging. Sie stellte sie alle in ihr Atelier. Sie verkaufte nie was von dem, was sie geschrieben hatte, aber hin und wieder bekam sie ein ermutigendes Ablehnungsschreiben, und das heftete sie an die Wand. Wenn wir Kinder aus der Schule kamen, war sie meistens im Atelier und arbeitete. Falls es still war, wussten wir, dass sie malte oder mögliche
    Motive betrachtete. Falls die Schreibmaschine klapperte, wussten wir, dass sie mal wieder einen Roman, ein Gedicht, ein Theaterstück, eine Shortstory in Arbeit hatte oder an ihrer illustrierten Sammlung von Merksprüchen arbeitete -einer lautete: »Das Leben ist wie eine Schale Kirschen, in die man eine Hand voll Nüsse geworfen hat« -, die den Titel trug: »Die Lebensweisheiten der R. M. Walls«.
    Dad trat der Elektrikergewerkschaft von Phoenix bei. Die Stadt sei im Aufschwung, erklärte er uns, und er fand rasch einen Job. Wenn er morgens aus dem Haus ging, trug er einen gelben Schutzhelm und schwere Stahlkappenschuhe, und ich fand, dass er darin besonders gut aussah. Mit Hilfe der Gewerkschaft verdiente er regelmäßiger Geld als je zuvor, und an seinem ersten Zahltag kam er nach Hause und rief uns alle ins Wohnzimmer. Wir Kinder hätten unsere Spielsachen im Vorgarten liegen lassen, verkündete er.
    »Nein, haben wir nicht«, sagte ich.
    »Ich glaube doch«, sagte er. »Geht raus und seht nach.«
    Wir rannten nach draußen. Und da standen in einer Reihe nebeneinander drei funkelnagelneue Fahrräder - ein großes rotes und zwei kleinere, ein blaues Jungenrad und ein lila Mädchenrad.
    Zuerst dachte ich, irgendwelche Kinder hätten sie dort stehen gelassen. Und als Lori sagte, Dad hätte sie offensichtlich für uns gekauft, glaubte ich ihr nicht. Wir hatten noch nie Fahrräder gehabt - Fahrradfahren hatten wir auf den Rädern anderer Kinder gelernt und mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass ich selbst mal eins besitzen könnte. Schon gar kein neues.
    Ich drehte mich um. Dad stand an der Tür, die Arme verschränkt und ein hintersinniges Grinsen im Gesicht. »Die Fahrräder sind doch nicht für uns, oder?«, fragte ich.
    »Na, für eure Mutter und mich sind sie ja wohl zu klein«, sagte er.
    Lori und Brian stiegen auf ihre Räder und fuhren auf dem Bürgersteig hin und her. Ich starrte meins an. Es war glän-
    zend lila und hatte einen weißen Bananensattel, rechts und links einen Drahtkorb, einen geschwungenen Chromlenker in der Form von Kuhhörnern, an dem weiße Plastikgriffe mit silbernen Quasten waren. Dad kniete sich neben mich. »Gefällt's dir?«, fragte er.
    Ich nickte.
    »Ach, weißt du, Bergziege, es tut mir noch immer Leid, dass ich dich gezwungen habe, deine Steinsammlung in Battie Mountain zu lassen«, sagte er, »aber wir konnten einfach nicht viel mitnehmen.«
    »Weiß ich doch«, sagte ich. »Außerdem war es sowieso mehr als ein Teil.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Dad. »Jedes dämliche Teil im Universum lässt sich in kleinere Teile unterteilen, sogar Atome, sogar Protonen,

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