Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
Vom Netzwerk:
Lieblingsenkelin und dass aus mir mal etwas ganz Besonderes werden würde. Ich mochte sogar all ihre Regeln. Es gefiel mir, wenn sie uns jeden Morgen bei Sonnenaufgang mit dem Ruf »Raus aus den Federn, alle Mann!« weckte und darauf bestand, dass wir uns vor dem Frühstück die Hände wuschen und uns kämmten. Sie kochte uns Grießbrei mit richtiger Butter und überwachte, wie wir den Tisch abräumten und den Abwasch machten. Hinterher kaufte sie für uns alle neue Sachen zum Anziehen und ging mit uns ins Kino, in Filme wie Mary Poppins.
    Jetzt, auf dem Weg nach Phoenix, stand ich hinten im Auto und lehnte mich zwischen die Vordersitze, wo Mom und Dad saßen.
    »Fahren wir zu Grandma?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte Mom. Sie schaute einen Moment aus dem Fenster, aber ohne etwas Bestimmtes anzusehen. Dann sagte sie: »Grandma ist tot.«
    »Was?«, fragte ich. Ich hatte sie verstanden, aber ich war so verdattert, dass ich meinte, mich verhört zu haben.
    Mom wiederholte den Satz, wobei sie noch immer zum Fenster hinausblickte. Ich schaute nach hinten zu Lori und Brian, aber die beiden schliefen. Dad rauchte, die Augen auf die Straße gerichtet. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich hier gesessen und an Grandma Smith gedacht hatte, an ihren Grießbrei und daran, wie sie mir schimpfend die Haare gekämmt hatte, und dabei war sie die ganze Zeit über schon tot gewesen. Ich schlug Mom auf die Schulter, richtig fest, und fragte immer wieder, warum sie uns nichts gesagt hatte. Schließlich hielt Dad meine Fäuste mit der freien Hand fest, in der anderen die Zigarette und das Lenkrad, und sagte: »Das reicht jetzt, Bergziege.«
    Mom schien verblüfft, dass ich so aufgewühlt war.
    »Wieso habt ihr uns nichts gesagt?«, fragte ich.
    »Was hätte das geändert?«, sagte sie.
    »Woran ist sie gestorben?« Grandma war erst Mitte sechzig, und in ihrer Familie wurden die meisten fast hundert Jahre alt.
    Die Ärzte hatten gesagt, sie sei an Leukämie gestorben, aber Mom glaubte, dass sie in Wirklichkeit radioaktiv vergiftet worden war. Die Regierung ließ dauernd Atombomben in der Wüste nicht weit von der Ranch testen, sagte Mom, und sie und ihr Bruder waren früher oft mit einem Geigerzähler losgezogen und hatten Steine gesucht, die tickten. Sie verwahrten sie im Keller und machten Schmuck für Grandma daraus.
    »Es gibt keinen Grund zu trauern«, sagte Mom. »Irgendwann müssen wir alle gehen, und Grandma hat ein längeres und erfüllteres Leben gehabt als die meisten.« Sie hielt inne. »Und wir haben jetzt ein Zuhause.«
    Mom erklärte, dass Grandma Smith zwei Häuser besessen hatte, das, in dem sie wohnte, mit den grünen Fensterläden und den hohen Verandatüren, und ein älteres Adobe-Haus mitten in Phoenix. Da Mom das ältere der beiden Kinder war, hatte Grandma Smith sie gefragt, welches Haus sie erben wollte. Das Haus mit den grünen Fensterläden war mehr wert, aber Mom entschied sich für das Adobe-Haus. Es lag in der Nähe des Geschäftsviertels von Phoenix und war in Moms Augen ideal, um darin eine Kunstgalerie zu eröffnen. Außerdem hatte sie von Grandma Smith noch etwas Geld geerbt, sagte sie, sodass sie mit dem Unterrichten aufhören und sich nach Herzenslust mit Malutensilien eindecken konnte.
    Sie hatte schon seit Grandmas Tod vor einigen Monaten mit dem Gedanken gespielt, nach Phoenix zu ziehen, fügte sie hinzu, doch Dad hatte aus Battie Mountain nicht weggewollt, weil er angeblich ganz dicht vor einem Durchbruch mit seinem Zyanidschwemmverfahren stand.
    »Das stimmt auch«, sagte Dad.
    Mom stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. »Deshalb war der Ärger, den ihr Kinder mit Billy Deel hattet, im Grunde ein Segen«, sagte sie. »In Phoenix werde ich als Künstlerin den Durchbruch schaffen. Das habe ich im Gefühl.« Sie drehte sich um und sah mich an. »Wir brechen zu einem neuen Abenteuer auf, Jeannettielein. Ist das nicht herrlich?« Moms Augen strahlten. »Ich könnte platzen vor Aufregung.«
    Als wir vor dem Haus auf der North Third Street hielten, konnte ich es nicht fassen, dass wir tatsächlich hier leben würden. Es war eine richtige Villa, so groß, dass Grandma Smith es an zwei Familien gleichzeitig vermietet hatte. Wir hatten jetzt das ganze Haus für uns. Mom sagte, es wäre vor fast hundert Jahren als Fort gebaut worden. Die weißen verputzten Außenmauern mit den eingebetteten winzigen Stückchen Glimmer, die in der Sonne funkelten, waren fast einen Meter dick. »Da kam todsicher kein

Weitere Kostenlose Bücher