Schloss der Engel: Roman (German Edition)
wurde ausdruckslos, während sie sprach: Jede Seele, die unbeschadet ins Reich der Engel wechseln darf, muss meinen Versuchungen entgegentreten. Widerstehst du ihnen, darfst du das Totenreich verlassen – versagst du, musst du bleiben! Aber auch wenn du Erfolg hast, solange du menschlich bist, musst du den Zugang allein finden.
Die Worte der Totenwächterin drangen nur langsam in meinen Verstand. Schließlich begriff ich, was sie bedeuteten: Ich konnte ohne Lebensverlust und Seelennot zu Christopher! Doch zuvor hatte ich ihre Prüfungen zu bestehen. Sicher sehr verführerische und langwierige Versuchungen. Vielleicht lebenslange. So verlockend das Angebot auch klang, es bedurfte noch eines Zusatzes.
Ich möchte am Ende deiner Prüfungen nicht alt und tattrig sein. Wenn sie nicht länger als einen Monat dauern, bin ich einverstanden.
Für mich dauern sie eine halbe Nacht und einen halben Tag, für dich wird keine Minute vergangen sein – wenn du bestehst.
Das Funkeln in ihren Augen hätte mich warnen müssen, aberich war zu versessen darauf, in Christophers Welt zu kommen, dass ich es ignorierte und zustimmte.
Mein Blick trübte sich, kurz bevor wir den Zugang zum Reich der Wächterin passierten. Meine Lungen drohten auseinanderzureißen, als ich wieder Luft zum Atmen bekam. Keuchend krümmte ich mich vor Schmerz.
»Armes Kind. Soll ich dir Linderung verschaffen?« Das Angebot der Wächterin klang aufrichtig, doch ihre Stimme war ein wenig zu süß.
»Nein danke«, japste ich. »Ich komm schon allein zurecht.«
Sie lachte amüsiert, wobei mir bewusst wurde, wie sehr sie das Spiel genoss. Bestimmt pokerte sie heimlich – sicher mit Aron.
Nach mehreren Hustenattacken schaffte ich es endlich, mich aufzurichten. Erneut blieb mir der Atem weg. Das Reich der Wächterin war wunderschön: Eingebettet in eine gigantische Luftblase, erstreckte es sich unter einem riesengroßen See. Ich konnte Seegras, Muscheln und Fische erkennen. Die Hülle musste verspiegelt sein, wie bei getönten Gläsern: rausschauen – ja, reinschauen – nein. Darüber hinaus war sie phosphoreszierend, so dass ein mildes blaues Licht die weite, mit sanften Hügeln modellierte Ebene erhellte.
Verschlungene Kieswege durchzogen das Land, gesäumt von schmalen, blattlosen Pflanzen – oder Tieren –, deren langfaseriges Haar in Spiralen nach oben strudelte. Wogende Felder in Rosa, Veilchenblau, Weiß und Purpur wechselten sich ab mit moosbedeckter Erde, auf der knorrige, zu Knäueln verflochtene Bäume wuchsen. Ich entdeckte honiggelbe Früchte, die wie Bienenstöcke herabhingen, und leuchtende, gläserne Kugeln mit kreisrunden Öffnungen. Gerade noch schaffte ich es, ein entzücktes Seufzen zu unterdrücken, als ein buntgefiederter Vogel aus einem der Löcher herausflatterte und mit seinem Gesang mein Herz berührte.
Ich riss mich los von dem betörenden Gezwitscher. Es war zu schön – wie alles hier, obwohl ich das Highlight noch gar nicht bemerkt hatte: den auf einem Hügel thronenden Palast der Wächterin.
Aufgetürmte Wellen, eingefrorene, regenbogenfarbene Gischtschleier und erstarrte Schaumkrönchen. Ein zu Eis gewordener Wasserpalast. Da konnte selbst das Schloss der Engel nicht mithalten.
Ich hielt meine Euphorie zurück, doch selbst ein Gefühlstauber hätte meine Begeisterung gespürt. Alles in mir drängte, den Palast zu erkunden, aber ich war mir sicher, dass er zu ihren Versuchungen gehörte.
»Und? Gefällt er dir?«, fragte die Totenwächterin mit zweideutiger Stimme.
»Ja«, antwortete ich wahrheitsgetreu. »Doch nicht in allem, was schön aussieht, ist auch Schönes drin.«
Sie lachte. »Da hast du wohl recht. Aber ich versichere dir, dass er dich wieder gehen lässt, wenn du freundlich zu ihm bist.«
Ich schluckte. War sich die Wächterin so sicher, dass ich versagte? Warnte sie mich deshalb? Oder wollte sie mich verunsichern? Bei ihr musste ich mit allem rechnen. Sie war heimtückisch. Ich sollte auf der Hut sein.
Die Wächterin war amüsiert, da ich den Palast erst betrat, nachdem sie mich hereingebeten hatte. Doch ich ertappte sie, wie sie mich heimlich musterte, während wir durch ihr zum Traum erstarrtes Zuhause liefen – als müsste sie mich neu einschätzen.
Das Innere des Palastes war noch beeindruckender als sein Äußeres. Gigantisch große Steinplastiken oder zerbrechlich feine Eisskulpturen, farbig pigmentierte Wände und Drei-D-Decken, einige mit märchenhaften Gestalten verziert, andere aus Eis
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