Schloss der Engel: Roman (German Edition)
hatte ich bloß geschlafen?
Meine Gedanken kehrten zu Christopher zurück. Pflichtumarmung! Seine Aufmerksamkeit war also nur Bestandteil seiner Aufgabe gewesen. Und dennoch durchschwirrte mich ein Kribbeln in der Magengegend, wenn ich an seine Umarmung dachte. Sie war so behutsam, beinahe zärtlich gewesen.
War ich enttäuscht? Und deshalb so sauer? Unmöglich, es musste etwas anderes sein. Schockiert, dass ich mich in seine Arme geflüchtet hatte?! Irgendwie ja – normalerweise hielt ich Abstand, wenn ich jemanden kaum kannte. Und vor Typen, die ihren Charme an- und abschalten konnten, erst recht. Doch Christopher war mir nähergekommen. Eindeutig!
Warum hatte ich das bloß zugelassen? War ich so verzweifelt gewesen? Oder war es eine Reaktion auf die fremde Umgebung, ein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit – die Suche nach einem Ersatz für Philippe? Ja. Drei Mal ja!
Mein Blick blieb an der hellen Lederjacke hängen. Christopher hatte sie mir im Wald gegeben, weil ich fror. Er war nur seiner Aufsichtspflicht nachgekommen. Umsichtig. Sonst nichts. Ich zog sie vom Stuhl, über den Susan sie fein säuberlich gelegt hatte, und schnupperte an dem weichen Leder. Es rochgenauso himmlisch wie er! Ich erblasste. War es nicht der Geruch, der Menschen anzog? Der innerhalb von Sekunden entschied, ob sie einander mochten oder sich gar verliebten?
Schwachsinn ! Schmetterlingstheorie!
Dennoch malträtierte ich mein Gehirn, bis ich den ungewöhnlichen Duft einordnen konnte – Sommergewitter in den Bergen. Genug! Nicht noch mehr Heimweh!
Angekratzt stopfte ich die Jacke in meinen leeren Rucksack und öffnete eines der Dachfenster. Ich sollte Abstand zu Christopher halten, zumindest zu seinem Geruch. Auch wenn das bedeutete, in seiner Gegenwart nicht mehr zu atmen.
Es wunderte mich, dass Susan vor dem Schloss auf mich wartete.
»Wir haben zusammen Training«, beantwortete sie meinen fragenden Blick.
Gemeinsam liefen wir den mit Buchs eingefassten Kiesweg an den Gebäuden der Schulverwaltung entlang Richtung Sportgelände. Obwohl ich neugierig war, welche Disziplin diesmal auf dem Programm stand – hoffentlich nicht Kugelstoßen –, fragte ich nicht nach. Susan wirkte verschlossen oder nervös. So gut kannte ich sie noch nicht, um sicher zu sein.
Sie steuerte zu einer großen Wiese, die hinter einer alten Baumreihe verborgen lag, wo ein Dutzend Strohscheiben und fast ebenso viele Schüler auf den Kursbeginn warteten. Mir rutschte ein überraschter Pfiff durch die Zähne – eine schlechte, italienische Angewohnheit, wie meine Eltern es nannten. Bogenschießen. Super!
»Wer leitet den Kurs?«, fragte ich neugierig.
»Aron«, antwortete sie leise und verstummte, als wir in Hörweite kamen. Ich konnte sehen, wie die Härchen auf ihrem Arm sich aufrichteten. War er so schrecklich?
Ich machte mich auf einen bärbeißigen Kauz mit Warzen und einem großen Buckel gefasst, doch dann entdeckte ich den smartaussehenden Typen, der Bögen austeilte – er konnte kaum älter sein als ich.
»Ist er das?«, flüsterte ich.
Susan nickte nur, lief zu den anderen hinüber und nahm den letzten Bogen entgegen.
»Die Pfeile sind drüben, ihr könnt schon mal mit dem Üben beginnen, während ich in der Zwischenzeit eine passende Waffe für unseren Neuzugang aussuche.«
Damit meinte er mich.
»Du bist Lynn?«
Ich nickte. Auf den ersten Blick wirkte Aron nett, doch die gründliche Musterung, mit der er mich begutachtete, machte mich nervös. Vielleicht hatte Susan mich angesteckt.
Entschlossen erwiderte ich seine Begutachtung: Er sah blendend aus. Sportlich, gebräunt, dunkelhaarig, irgendwie italienisch – und er roch auch so, nach Meer und wilden Kräutern. Natürlich nicht zu vergleichen mit Christopher. Ich biss mir auf die Lippen und verbot mir jeden weiteren Gedanken an meinen Lieblingsduft. Seit wann war ich so gefühlsduselig?
»Ich weiß schon, was ich dir gebe, Lynn.« Arons unterdrücktes Grinsen war nicht zu übersehen.
Aus einer der bereitstehenden Holzkisten holte er einen kleinen, geschwungenen Bogen – offensichtlich traute er mir nicht allzu viel zu. Leicht angesäuert verfolgte ich seine Anweisungen mit gedämpfter Begeisterung. Als ich jedoch von Susan erfuhr – nachdem Aron sich endlich einem anderen Schüler zugewandt hatte –, dass die Form der Waffe, mit der ich übte, auf die römische Mythologie des Amorbogens zurückgehe, wurde ich richtig sauer. Meine Wut war anscheinend noch nicht
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