Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
blutunterlaufenen Augen glänzte es. Er ließ eine Hand los, um sich die Tränen
abzuwischen.
»Ich bin kein Feigling!«, schrie er unvermittelt. »Die waren zu zweit
und größer als ich. Die sind Feiglinge, nicht ich!«
»Niemand behauptet, dass du ein Feigling bist, Fikret. Niemand, verstehst
du?«
Er antwortete mit einigen türkischen Brocken. Wieder das Zugsignal,
nun schon deutlich näher als vorhin. Von der anderen Brückenseite beobachtete uns
Steve, halb über dem Geländer hängend. Hoffentlich begann er nicht auch noch, hier
herumzukraxeln. Wenn der Junge sich eingekesselt fühlte, würde er springen.
»Ihr habt Scheiße gebaut«, sagte ich. »Du, Tarek und Ömer. Aber wenn
du erzählst, was die beiden vom College vorher mit dir angestellt haben, wird die
Sache ganz anders aussehen. Nur reden musst du darüber, hörst du? Reden, nicht springen!«
»Quatsch!«, brüllte er. »Totaler Quatsch! Egal, was passiert ist, uns
Türken wird es angehängt. Immer sind wir daran schuld. Wenn ein Lehrer erschossen
wird, waren wir es. Auch wenn wir nichts damit zu tun haben. Der Schallmo war ein
verlogenes Schwein, und er wollte meine Schwester ficken. Deshalb ist es gut, dass
er weg ist, aber für den gehe ich nicht ins Gefängnis!«
»Sondern? Lieber springst du?«
Wieder eine Antwort auf Türkisch. Hinter den Scheiben
gab es Bewegung. Die Brückenpassanten waren auf das Spektakel aufmerksam geworden.
»Du meinst, wenn du springst, hält dich keiner
für einen Feigling?«, sagte ich. »Damit alle wissen, aus dem Fikret wäre was geworden,
wenn ihn die Scheißdeutschen nur gelassen hätten? Ein Held wie sein Vater? Vergiss
es! Springen kann jeder. Wenn du springst, springe ich auch.«
Er schwieg. Seine Arme zitterten. Der verdammte
Zug konnte nicht mehr weit entfernt sein. Er kam von Süden mit Ziel Hauptbahnhof.
»Hörst du?«, schrie ich und näherte mich nun doch. »Wenn du springst,
springe ich auch, Fikret!«
Aber er schien mich nicht mehr wahrzunehmen. Die linke Hand weiterhin
an der Glaskante, drehte er sich zu den Gleisen um. Sein kurzer Oberkörper beugte
sich vor. Nur noch die Fingerspitzen hielten ihn. Was sollte ich tun? Zu ihm hinrutschen,
ihn zurückreißen? Ich musste mich doch selbst festklammern, und am Ende fielen wir
beide. Der Zug kam. Fikret riss die Augen auf.
»Yok!«, schrie ich. »Nein, Fikret! Yok!«
Aber auch die türkische Vokabel drang nicht mehr in sein Bewusstsein.
Schon schoss die rote Lok des Regionalzugs dröhnend unter uns hervor, dass die Brücke
bebte.
Fikret ließ los.
Einen Moment lang glaubte ich, es könnte gutgehen. Der Junge hatte
seinen Platz so gewählt, dass er auf das gewölbte Dach des ersten Waggons fiel,
ohne die mittig verlaufende Hochspannungsleitung zu berühren. Noch im Fallen streckte
er die Hände aus, um sich sofort festhalten zu können. Es war kein Selbstmordversuch.
Fikret wollte abhauen!
Aber dann sah ich ein grellweißes Licht, das sich schmerzhaft in die
Netzhaut brannte. Ein Lichtbogen zwischen der Leitung und dem fallenden Körper.
Fikret schrie – ja, da war ein Schrei zwischen all den rumpelnden Fahrgeräuschen
des Zugs – er schrie, schlug hart auf dem Dach auf und rutschte zur Seite. Ein paar
Meter wurde der regungslose Körper noch mitgeschleppt, dann fiel er nach rechts,
neben die Gleise.
Vielleicht war es auch mein Schrei, den ich gehört hatte.
Ohne zu wissen, was ich tat, hangelte ich mich zu der Stelle, an der
eben noch der Junge gestanden hatte. Sein Körper im Kiesbett. Mein Versprechen:
Dann springe ich auch! Ich auch, Fikret! Waggon für Waggon schälte sich unter der
Brücke hervor. Von hier aus war das Dach ganz nahe, ein Satz von höchstens zwei
Metern. Kein Problem, an der Hochspannungsleitung vorbei zu springen. Warum hatte
Fikret das nicht geschafft?
Wir sind beide keine Feiglinge, dachte ich, gab eine Hand frei und
drehte mich wie er zu den Gleisen. Ich hatte es ihm doch versprochen!
In diesem Moment brach hinter mir ein Gewitter los. Reflexartig schnellte
mein Kopf herum. Es war Steve Bungert, der mit beiden Fäusten gegen die Plexiglasscheibe
trommelte. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, die Augen sprangen schier aus ihren
Höhlen. Und sein Mund formte ein einziges Wort, das ich nicht hören, aber sehen
konnte: »NEIN!«
Ich legte meine Hand wieder um die Glaskante.
33
»Sehr gut«, seufzte Kommissar Fischer. »Eine Wohltat, wirklich. Sie
sollten ins Frisörfach wechseln, Herr Koller.« Er stand
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