Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
einen
dünnen Husten über. »Ach bitte, könnten Sie dann wenigstens einen Brief für mich
einwerfen?«
Klar konnte ich das. Wenn ich ihm schon nicht den Zaun reparierte!
Tatsächlich drückte er mir gleich darauf einen Umschlag in die Hand. Manche Dinge
bekam er also auch ohne seine Frau geregelt. Doch ich revidierte diese Ansicht sofort,
als ich sah, was auf dem Brief stand: ›Zurück an Absender! Adresse unbekannt!!‹
Obwohl seine Anschrift korrekt notiert war, hatte er sie mit zwei dicken, wütenden
Strichen durchkreuzt.
»Wird gemacht, Herr Böker«, sagte ich und winkte zum Abschied. Der
alte Mann blieb im Flur stehen, an den Füßen ein Paar nasse Pantoffeln. Leise schloss
ich die Haustür hinter mir.
7
Ich wurde älter.
Jeden Tag. Ich spürte es in den Knochen, sah es am zurückweichenden
Haaransatz, merkte es an meinen Radfahrzeiten auf der Königstuhlstrecke, die immer
schlechter wurden. Das untrüglichste Zeichen aber war meine zunehmende Verweichlichung.
Ich zerschmolz ja regelrecht von innen her! Früher hatte ich überhaupt nicht gewusst,
was das ist: ein Gewissen. Das auch noch schlecht sein konnte. Inzwischen attackierte
es mich regelmäßig. Tischfußball-Kurt brauchte nur daran zu appellieren, schon tanzte
ich nach seiner Pfeife. Ein Greis namens Böker brabbelte wirres Zeug – prompt bekam
Max Koller ein mulmiges Gefühl im Magen.
Und jetzt auch noch das Handy. Mein Trumpf-Ass. Ein Glücksfund. Der
berühmte Sechser im Lotto. Ich hätte jubeln sollen, auf dem ganzen Weg von Rohrbach
nach Bergheim. Stattdessen überlegte ich mir Ausreden. Sätze, mit denen ich Kommissar
Fischer, meinen Lieblingspolizisten, milde stimmen könnte. Wäre er vor Ort gewesen,
als ich es fand, hätte ich es ihm vielleicht übergeben.
Hättest du nie, elender Lügner!, gellte eine Stimme durch mein Inneres.
Doch, vielleicht. Sogar ganz sicher, wenn es ausgeschaltet gewesen
wäre.
War es aber nicht!
Korrekt. Und das war das Problem. Mein Glück und mein Problem. Ich
brauchte keine PIN, um an Schallmos Adressbuch, die Anrufliste und die eingegangenen
SMS zu kommen. Wäre es ausgeschaltet gewesen, hätte ich nichts damit anfangen können.
Unsereins kennt keine Nerds, die dir in einer halben Stunde jede Verschlüsselung
knacken.
Aber es war nicht ausgeschaltet!, höhnte die innere Stimme.
Und eben deshalb hatte ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Mit dieser
Bürde schleppte ich mich in den Hof unseres Mietshauses, stellte mein Rad ab, sperrte
die Tür zu meinem Büro auf. Außer mir würde es zwar kein Mensch als Büro bezeichnen,
denn es ist in einem alten Schuppen untergebracht, der mal eine Voliere war. Auf
dem Schreibtisch steht fast immer eine Kiste Bier, und über dem PC hängt Wäsche
zum Trocknen. Nach Vogelkacke stinkt es auch. Aber wenn ich eine Steuerschuld hätte,
die es zu mindern gälte, würde ich diesen Raum als Büro angeben. Aus Furcht vor
dem Steuerprüfer würde ich allerdings zuerst die Kiste Bier leeren und die Wäsche
irgendwohin räumen. Und ich würde das Feldbett zusammenklappen, auf dem ich manchmal
nach Besuchen im Englischen Jäger übernachte.
Wo waren wir? Bei Schallmos Handy, richtig. Ich schaffte es, mich meines
schlechten Gewissens zu entledigen, indem ich mir einredete, das Telefon sowieso
nicht rechtzeitig ans Netz anschließen zu können. Na gut, einen Versuch war es wert,
also schnell nach oben gesaust und das Ladegerät von Christines Handy gesucht, dann
wieder hinunter, ohne jede Hoffnung getestet – Bingo! Der Stecker des Geräts passte
an Schallmos Telefon.
Ich ballte die Faust. Und flugs meldete sich mein Gewissen wieder.
»Heute noch bringe ich dich zur Polizei«, versprach
ich dem Handy. Nein, versprechen wäre zu viel gesagt. Ich formulierte meinen Satz
bloß laut und vernehmlich und hörte mir dabei zu, wie er klang. Gut klang er nicht,
fand ich. Eher kleinmütig. Spießig. Ja, er erinnerte mich an diese Zeitungsschlagzeilen
aus der Sauregurkenzeit: Witwe (92) bedankt sich bei ehrlichem Finder. Ich war kein
ehrlicher Finder. Ich war ein Privatflic, der Beweismaterial unterschlagen hatte.
Da half auch eine überstürzte Rückgabe nicht.
»Also gut: Morgen bringe ich dich zur Polizei«,
sagte ich. »Oder übermorgen.« Dann machte ich mich ans Werk.
Anders als sein Besitzer hatte Schallmos kleines
Telefon die Nacht gut überstanden. Regen und einstellige Temperaturen hatten ihm
nichts ausgemacht. Als Erstes nahm ich mir die Gesprächslisten vor. In den
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