Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
jetzt?«
»Woher soll ich das wissen?«, sage ich etwas bockig. Mein Kopf bumpert, ich fühle mich ungeduscht und ungeliebt, und dann soll ich auch noch eine Entscheidung treffen?
»Selbstmitleid hilft dir jetzt ganz sicher nicht weiter«, stellt Brigitte fest, der mein bockiger Ton noch nie den Wind aus den Segeln genommen hat. »Und jetzt denk nicht so viel darüber nach, dass du nicht weißt, was du willst. Sag einfach das erste, was dir in den Sinn kommt.«
»Ich will hier weg!«, sage ich sofort. Und merke, dass das gar keine dumme Idee ist. »Ich fahre in die Stadt«, sage ich, »und ich will endlich mal was erleben!«
»Genau!«, bestätigt Brigitte.
»Ich brauche jetzt Kontrastprogramm. Weg vom Landleben mit all seinen Enttäuschungen.« Das hört sich wirklich verdammt gut an. Also setze ich noch hinterher: »Jetzt wird es glamourös!«
»Pass bloß auf dich auf!«, sagt Brigitte. »Und übertreib nicht sofort wieder. Deinen letzten Auftritt in der großen Stadt hattest du mit einer unvergesslichen Performance in einem Sex-Shop.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst.«
»Dafür nicht. Übrigens: Deine Mutter hat mich angerufen und wollte wissen, ob ich weiß, wo du steckst. Ich habe gesagt, du bist in einem Wellnesshotel, das ich dir empfohlen habe. Du wolltest mal in Ruhe nachdenken und gleichzeitig etwas entschlacken, dich um deine Figur und um dein Äußeres kümmern.«
»Und das hat sie dir abgenommen?«
»Aber natürlich! Ich kann sehr glaubwürdig sein, weißt du.«
»Ohne Zweifel. Wann kommst du wieder nach Hause?«
»Morgen früh. Es gibt übrigens interessante Neuigkeiten. Weil ich dich nicht erreicht habe, musste ich ja ein bisschen rumtelefonieren. Du glaubst nicht, was ich herausgefunden habe. Das Machtgefüge im Dorf wackelt. Aber jetzt muss ich aufhören, Wolfgang wartet. Tschüss!« Und zack, weg ist sie.
Ich will also in die Stadt. Hm. Da war doch was. Da war doch ... Tief durch einen Nebel, der mein Gedächtnis verhüllt wie Gardinen mit Grauschleier, wabert die vage Erinnerung an so etwas wie eine Einladung. Es kommt näher, es wird deutlicher, ich muss mich konzentrieren – ja, genau: Sandra. Sandra hat mich gefragt, ob ich mit zu einem Konzert will! Und ich habe abgelehnt, natürlich. Aber jetzt ist alles anders. Ich will in die Stadt. Und ausgehen. Meinetwegen sogar zu einem Konzert.
Ich rufe Sandra an. Sie ist zuhause, ich kann vorbeikommen. Wenn ich es schaffe, mir ihre Adresse und die U-Bahn-Station, die sie mir am Telefon durchgibt, zu merken. Dann gehe ich zur Bushaltestelle an der nächsten Landstraße und warte. Und warte. Und warte. Sonntags fahren die Busse hier noch seltener als sonst. Genaugenommen: nur drei Mal. Morgens, mittags, nachmittags.
Ich setze mich in die kleine Wartehütte, die aussieht, als würde sie besser in eine Postkartenberglandschaft passen als in die norddeutsche Tiefebene, und schaue einem Plakat, das für einen kleinen Zirkus wirbt, beim Zerfleddern zu, während ich auf den Nachmittagsbus warte. Auf dem Plakat ist ein aufdringliches Clownsgesicht. Ich habe Angst vor Clowns, ich glaube, dass sie böse sind. Ob Herr Wesseltöft diese Meinung mit mir teilt? Ich würde zu gerne mit ihm reden. Geht aber nicht. Jetzt will ich etwas erleben. Die Sau rauslassen. Mich amüsieren. Ich zähle die in das Holz gepinnten Reißzwecken.
Endlich kommt der Bus. Eineinhalb Stunden brauche ich, bis ich bei Sandra ankomme. Ich muss vier Mal umsteigen und fahre mit der U-Bahn erst ein paar Stationen in die falsche Richtung.
Sandra wohnt in einer sogenannten »angesagten Gegend«, mitten in der »Szene«, wie sie es nennt. Mir fällt auf, dass viele Leute auf einem Klapprad unterwegs sind. So eins habe ich als Kind mal gehabt – und es gehasst. Es sah völlig lächerlich aus, mit den winzigen Reifen und dem riesigen Scharnier in der Mitte. Außerdem musste man sich unheimlich abstrampeln, um überhaupt voran zu kommen. Ich glaube, ich kann mir kein unkomfortableres Fahrrad vorstellen. Aber den Leuten hier scheinen all diese offensichtlichen Nachteile nichts auszumachen. Sie haben alle Pappbecher in der Hand. Die Männer tragen Trainingshosen, die Frauen bunte Kleider, die mich ein wenig an die Original-Siebziger-Jahre-Frühjahrsputzkittel von Heiners Mutter erinnern, über Jeans. Alle wirken sehr zufrieden mit sich. Fast schon gelangweilt.
Im Treppenhaus, das zu Sandras Wohnung führt, stinkt es wie in einem Iltiskäfig. Sandra begrüßt mich herzlich mit
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