Schluß mit cool (German Edition)
von den Wänden entgegen, dazu mehrere Collagen aus Schnipseln von Tieren, Autos und verschiedenen Körperteilen, mit denen Buck seine Zimmerdecke dekoriert hatte. Ein Quadrat gleich links von der jetzt nutzlosen Lampe präsentierte nichts als Füße und Zehen (männlich, weiblich, androgyn), ein anderes die Pfoten diverser bekannter und exotischer Tiere, unter anderem etwas, das aussah wie der hakenförmige Vorderfuß eines Faultiers. Daß Buck nicht mehr zu Hause wohnte, sah man auf den ersten Blick – die Stapel verdreckter Kleidung waren verschwunden, und entsprechende lagen inzwischen vermutlich in Plattsburgh. Tatsächlich bestand die einzige bekleidungstechnische Erinnerung an seinen Sohn in einem Paar schlammverkrusteter Wanderstiefel, die in der Ecke an der Wand standen. In der anderen Ecke lehnte eine gebrochene Angelrute am Bett, auf dem Boden lagen vergilbte Zeitungen verstreut, daneben stand ein verloren wirkender Käfig, in dem einst ein Hamster sein Leben gefristet hatte. Das Bett selbst erinnerte an einen dieser Tische im Leichenschauhaus. Und so ähnlich war es ja auch: Buck war jetzt fort, erwachsen und weggegangen, und das war eine Tatsache, an die er sich einfach gewöhnen mußte.
Lange Zeit stand John am Fenster, nahm die Szene in sich auf, dann fröstelte er, und es fiel ihm das Kaminfeuer im Wohnzimmer ein, die defekte Heizung und das Unwetter draußen. Und dann, fast als nachträgliche Idee, bückte er sich vor dem niedrigen Bücherregal aus Ziegelsteinen und Brettern, das sich wacklig an der Wand erhob.
Das Durchsehen der von seinem Sohn zurückgelassenen Bücher dauerte eine Weile, länger, als er für möglich gehalten hätte, und das gab ihm die Zeit, über seinen eigenen Literaturgeschmack in der Pubertät nachzudenken, der im Prinzip in einer geraden Linie von Heinlein zu Vonnegut verlaufen war und von dort aus Umwege in die europäischen Exotica unternommen hatte, wie etwa Ich, Jan Cremer oder Tod auf Kredit von Céline, mit dem er nie fertig geworden war. Jedenfalls waren Bücher damals ein wichtiger Faktor in seinem Leben, er hatte sich über Neuerscheinungen immer umfassend informiert, und sie besaßen seinerzeit ebensoviel Bedeutung für das alltägliche Dasein wie Schallplatten und Spielfilme. Musik hörte er allerdings nicht mehr viel – es kam ihm immer so vor, als hätte er das alles schon mal gehört, jede Band schien ihm eine Imitation der letzten –, auch für Ausflüge in die Multiplex-Ödnis am Stadtrand fanden er und Barb nur selten Zeit und Energie. Und Bücher – nun, er las nicht mehr allzuviel, und er würde das auch als erster zugeben. O ja, hie und da saß er auf irgendeinem Flughafen fest und huschte dann wie jeder andere unauffällig in die Buchhandlung und schnappte sich irgendeinen dicken, geistlosen Schmöker, um die nervtötende Zeit am Boden und in der Luft totzuschlagen, aber egal, was er sich aussuchte, egal, wie einladend Bild und Text auf dem Umschlag sein mochten, er erwies sich unweigerlich als zu dick und geistlos, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Selbst dann nicht, wenn er zusammen mit zweihundert Fremden in einer heulenden Hülle aus Stahl zwölf Kilometer über der Erde angeschnallt war und keinen Platz zum Bewegen, zum Nachdenken, nicht einmal zum Verlagern des Körpergewichts von einer Arschbacke auf die andere fand.
Endlich, nachdem er ein halbes Dutzend Titel erwogen und verworfen hatte, fielen ihm mehrere einheitliche metallfarbene Buchrücken ins Augen – Gold, Silber, Bronze, schimmerndes blankpoliertes Chrom –, und er zog eins der glänzenden Taschenbücher vom Regal. Der Titel, eingerahmt von blutroter Farbe, die vom Umschlag zu triefen schien, als hätte die Schwerkraft noch Einfluß auf sie, lautete Die Entführer von Pentagord . Von dem Autor hatte er noch nie gehört, einem Mann namens Filencio Salmón, der auf dem Innenumschlag als »der bedeutendste Schriftsteller Puerto Ricos auf dem Gebiet der spekulativen Fiktion« bezeichnet wurde – was, wie sogar John noch wußte, der bevorzugte Terminus für das war, was er und seine Kommilitonen lieber »Science-fiction« genannt hatten. Er sah jedes der metallisch schimmernden Bücher durch, die das Œuvre von Salmón bildeten, und entschied sich schließlich für einen Band mit dem Titel Fünfzig abwärts (Cincuenta y retrocediendo) . Und warum gerade für den? Tja, weil er selbst gerade fünfzig geworden war, ein Geburtstag, den Angst und bange Vorahnungen bestimmt hatten,
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