Schlussakt
den
Mund. Wir losten die Farben aus und begannen die zweite Runde.
Blitzschach im angetrunkenen Zustand ist meine
Paradedisziplin. Da kann sogar der schöne Herbert einpacken. Herbert braucht
Zeit, um Stellungen abzusichern, Varianten zu durchdenken, und wenn er diese
Zeit hat, schlägt ihn im Englischen Jäger keiner. Geht es um Sekunden,
ist er bloß Durchschnitt. Ein Sieg gegen den Einarmigen, und ich würde unser
kleines Turnier schon nach der zweiten Runde gewonnen haben. Selbst bei einem
Unentschieden blieb mir am Ende immer noch die Partie gegen Tischfußball-Kurt.
Den hatte ich im Griff, Doping hin oder her.
Aber es war wie verhext. Seit Sorgwitz den Raum betreten
hatte, war das Spiel ein anderes. Die Schachfiguren wirkten plötzlich so
bullig, so kampfhundartig, das Schachbrett bestand aus lauter Kreuzen, und ich
hätte mich nicht gewundert, wenn die Dame dem König eine Gardinenpredigt
gehalten hätte. Über den moralischen Verfall der Läufer zum Beispiel. Ich
versuchte, mich auf eine Eröffnung zu konzentrieren, doch immer wieder kamen
mir Bilder in die Quere: Sorgwitz, im Blut stehend, die Leiche Wolls, das
Passfoto Nagels im Schnee. Dass ich mich vom Auftauchen des Blonden aber auch
derart irritieren ließ! Verzweifelt stürzte ich ein halbes Bier auf einmal
hinunter.
Kaum hatte ich es abgesetzt, stand der Kampfhund an unserem
Tisch.
Er hielt sein Weizenbierglas in der Rechten, die Linke ruhte
tief in der Manteltasche, während der Kaugummi noch immer sein Martyrium
zwischen den Kiefern des Kommissars durchlitt. Zu einem Kommentar ließ sich
Sorgwitz nicht herab. Er stand einfach da und grinste mich an.
Ich grinste zurück, aber
nur kurz; dann widmete ich mich wieder dem Spiel. Herbert, mein Gegenüber,
legte die Stirn in Falten und drehte den Kopf ein wenig, um zu Sorgwitz
hinaufzuschielen. Anschließend begann er, sich umständlich an seinem Armstumpf
zu kratzen.
»Wie gut, dass unsereins keine Steuern zahlt«, brummte
Tischfußball-Kurt.
»Na, schon den Samowar angefeuert?«, gab Sorgwitz, immer noch
grinsend, zurück. Kurt schwieg.
Ich griff zu einem Springer, um Herberts Turm zu schlagen.
»Genau das würde ich nicht tun, Herr Koller«, sagte der
blonde Kommissar.
Ich hielt mitten in der Bewegung inne und sah zu ihm auf.
»Das hier ist Schach«, sagte ich. »Schach, nicht
Counterstrike.«
»Der kann doch nicht mal Sudoku«, rief Tischfußball-Kurt, und
alles lachte, wenn auch gezwungen.
»Er will, dass Sie den Turm schlagen«, sagte Sorgwitz. »Um
diese Flanke hier freizubekommen.« Seine linke Hand schälte sich aus der
Manteltasche, der Zeigefinger deutete auf die Felder um den Springer. Ein
klobiger Ring mit silbernem Kreuz wurde sichtbar.
Der schöne Herbert griff mit spitzen Fingern nach dem Ärmel
des Blonden und zog die Hand vom Schachbrett. Dabei stand ihm der Abscheu ins
Gesicht geschrieben.
»Danke«, sagte ich und schlug seinen Turm. Sorgwitz lachte
auf. Dann zahlte er und ging. Das Gasthaus zum Englischen Jäger war
wieder bullenfrei.
Fünf Minuten später bot ich Herbert zähneknirschend ein
Unentschieden an.
»Ist ja kein Wunder, wenn hier solches Gesocks rumläuft«,
wütete Tischfußball-Kurt. Von seinem Gegner aus der Gruft war er einfach
überrannt worden. Ich stand auf, ging zur Toilette und ließ mir auf dem Rückweg
von Maria ein frisches Bier reichen. Der Jüngling in Schwarz hatte meinen Platz
eingenommen und saß nun neben dem bärtigen Intellektuellen.
»Und wie ist es auf Flughäfen?«, fragte Leander mit seiner
warmen Stimme gerade. »Macht das Metall da keine Probleme?«
»Kapier ich nich. Was für Probleme soll es denn auf Flughäfen
geben?«
»Die Detektoren. Piepst es nicht, wenn Sie durch die
Kontrolle müssen?«
»Hä?« Irritiert sah uns der Junge an. »Ist der noch ganz
dicht, der Alte? Und warum siezt der einen?«
»Gute Kinderstube«, sagte Leander würdevoll und strich über
seinen wallenden Bart. »Als ich das letzte Mal nach Irland flog, zu diesen
Inseln im Westen, wo sie noch Gälisch sprechen, also noch richtig Gälisch, das
war aber in den 70er Jahren, als man nur von Frankfurt aus, da hat keiner an
Terroristen gedacht, die Flugzeuge in Hochhäuser …«
»Ist ja gut«, schnitt ihm Kurt das Wort so rüde ab, dass
seine beiden Dackel zu kläffen begannen. »Schwafel nachher weiter, du
Philosoph. Hier steht eine Entscheidung an.«
»Das«, sagte Leander noch eine Spur würdevoller,
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