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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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so
richtig Freude, dieser Fall. »Tun oder lassen, das kommt manchmal auf dasselbe
raus. Vielleicht hat Woll noch einen Schlüssel oder Barth-Hufelang. Wären Sie
wenigstens so freundlich, mir zu sagen, wo die Orchesterprobe stattfindet?«
    »Ich bringe Sie runter.«
    Begleitet vom Gezeitenlied der Heulboje über uns, verließen
wir das Dirigentenzimmer, durchquerten wortlos das Sekretariat und stiegen
durchs Treppenhaus hinab ins Untergeschoss. Hinter einer Brandschutztür
erstreckte sich ein schmaler, in schummriges Licht getauchter Gang, es ging
eine Treppe abwärts und eine zweite wieder hinauf, bis Bernd Nagel schließlich
eine Tür zu einem kleinen, dunklen Zimmer öffnete. Das Kabuff selbst war leer,
aber durch eine breite Glasscheibe blickte man in einen Proberaum, in dem Enoch
Barth-Hufelang wild gestikulierend vor seinem Orchester stand. Ich zählte knapp
50 Personen in Alltagskleidung. Sie bearbeiteten ihre Instrumente, lauschten
dem großen Meister und trugen ab und zu etwas in ihre Noten ein. In unserem
abgeschotteten Raum war die Musik von nebenan nur sehr schwach zu hören, wie
aus weiter Ferne.
    »Ich geh dann mal«, sagte Nagel. »Viel Erfolg.«
    »Na, und Ihnen erst. Verraten Sie mir noch, wo dieser Woll
sitzt?«
    »Erste Klarinette.« Und dann, als er merkte, dass mir das
nicht genügte: »Bläser, letzte Reihe, der zweite von links.«
    »Danke.« Die Tür schloss sich. Ich war allein.
    Allein mit klassischer Musik, von der kaum etwas zu hören,
aber viel zu sehen war. Und was sah ich? Einen Dirigenten, Magier des
Taktstocks, wie er verzückt den Klängen nachsann? Cellisten, die sich in
Ekstase über ihrem Instrument verbogen, Geiger, die vor lauter Leidenschaft
ihren Bogen fraßen? Eher nicht. Auf den ersten Blick wirkte das Geschehen
hinter der Scheibe verdammt geschäftsmäßig: Musizieren nach Vorschrift, die
Gewerkschaft hört mit. Es wurde ohnehin wenig durchgespielt. Barth-Hufelang
winkte immer wieder ab, gab Anweisungen, klopfte auf seiner Partitur herum. Die
Damen und Herren Orchestermusiker starrten ins Leere, blätterten vor,
blätterten zurück, machten sich Notizen. Und wenn sie spielten, taten sie es
mit so viel Anteilnahme, als strickten sie unter einer Friseurhaube.
    Okay, das ist jetzt nicht gerecht. Wer wie ich seine
Klischees vom seelenerwärmenden Musikerlebnis im Hinterkopf hat und insgeheim
jeden beneidet, der brauchbare Töne aus einer Tuba quetscht, kann mit so einer
Alltagsszene halt wenig anfangen. Wenn man genauer hinsah, machte man auch
hübsche Detailbeobachtungen. Der dirigierende Barth-Hufelang zum Beispiel
bewegte sich überraschend geschmeidig, trotz seines Übergewichts von 40 Pfund.
Außerdem schwitzte er, schwitzte sogar gewaltig, Musizierroutine hin oder her,
und die in der ersten Orchesterreihe taten mir leid. Vielleicht wandten sie
deshalb beim Spielen den Blick nicht von ihm. Wer weiß, was so ein
Dirigentenschweißtropfen auf dem Lack einer Uraltgeige ausrichtete.
    Auch dem einen oder anderen Musiker konnte man eine gewisse
Hingabe an seine Tätigkeit nicht absprechen. Die Schlagzeuger zum Beispiel, das
sah nach echter Knochenarbeit aus. Oder wenn die Bassisten hinlangten. Links
neben Woll saß einer, der mit seiner Klarinette die Bewegungen eines
Schlangenbeschwörers vollführte. Konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben.
Dabei spielte er viel weniger als Woll. Annette Nierzwas Ex-Mann hingegen war
die Ruhe selbst. Er hatte die Figur eines zu kurz geratenen Boxers, eine hohe
Stirn, gar keinen Hals und tiefliegende Augen. Wenn er an der Reihe war, setzte
er sich ruckartig auf, fuhr sein Instrument aus und legte los. Einer dieser
kleinen, beweglichen Bagger, wie sie beim Straßenbau eingesetzt werden. In
Sinfonien ließ er die Blechbläser die Drecksarbeit übernehmen, und was dann
noch an Noten übrig war, schaffte er mit seiner Klarinette weg. Nur einmal, bei
einem längeren Solo, geriet er in Fahrt: rückte an die Stuhlkante, legte die
Stirn in Falten und zog mit dem Oberkörper langsam, aber stetig nach rechts.
Ich konnte mir denken, warum.
    Denn neben ihm saß eine Frau, für die es sich gelohnt hätte,
ein Instrument zu lernen. Da konnte sogar Marc Covets Cordula einpacken, von
Fattys fülliger Gletscherbekanntschaft ganz zu schweigen. Bei ihr war alles so,
wie man als Mann hofft, dass es sein könnte, obwohl man genau weiß, dass es nie
so sein wird. Die Augen, die Figur, die Ausstrahlung, alles am

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