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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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rechten Platz,
alles dran, nicht zu viel und nicht zu wenig. Ich weiß selbst, wie lächerlich
das klingt, aber was sollte ich sonst über diese Frau sagen? Sollte ich
erwähnen, dass sie dunkle Locken hatte und eine gerade Nase? In diesem
Orchester saßen jede Menge Gelockte, und eine gerade Nase hatte sogar Woll, der
Boxer, der das genaue Gegenteil eines Traummannes war. Manchmal versagt die
Sprache, und zwar meistens dann, wenn es ums Eingemachte geht, um alles oder
nichts, um die entscheidenden Dinge im Leben. Ich wusste nicht, wie ich diese
Frau beschreiben sollte, ich wusste nur eines: Wenn Woll ihr seine dreckige
Hand aufs Knie legte, würde ich durch die Plexiglasscheibe springen und ihn mit
seiner Klarinette erschlagen.
    Scheiße.
    Nie wieder Weizenbier! Das verdammte Zeug machte einen völlig
sentimental. Ich war doch nicht hier, um pubertären Träumen nachzuhängen, ich
hatte einen Auftrag, eine Aufgabe, außerdem war die schöne Musikerin längst mit
dem Konzertmeister verheiratet oder dem muskelbepackten Pauker, sie hatte vier
Kinder, ein Eigenheim und engagierte sich dienstags im Naturschutz. Sie würde
eher die Fliege an der Wand wahrnehmen als mich, da konnte ich mich auf den
Kopf stellen und mit den Beinen wackeln. Also vergiss das Ganze, Max Koller,
und reiß dich zusammen.
    Schade, dass ihr Spiel den perfekten Gesamteindruck trübte.
Sie hatte einen fast mannshohen Holzprügel umhängen, von dem aus ein gebogenes
Metallrohr direkt in ihren Mund ragte. Wenn sie an der Reihe war, legte sie die
Lippen um das Mundstück und schob den Unterkiefer nach hinten wie eine zahnlose
Greisin; gleichzeitig wurde ihr Kehlkopf gequetscht, traten einzelne Muskeln am
schlanken Hals hervor. Den Oberkörper bewegte sie kaum, dafür flatterten die
beiden Daumen über dem Prügel hin und her. Hoffentlich verschluckte sie sich
nicht an dem Ding.
    Lieber nicht so genau hinsehen.
    Nachdenklich betrachtete
ich meine Fingernägel, kratzte ein wenig Dreck unter ihnen hervor, und als ich
wieder aufschaute, war das Orchester verschwunden.
    Das heißt, verschwunden war es nicht, aber kein Musiker saß
mehr an seinem Platz. Man eilte davon, verstaute die Instrumente, schnappte
nach Mänteln. Leere Stühle bevölkerten den Raum. Auch Barth-Hufelang, die dicke
Partitur unterm Arm, trollte sich watschelnd. Verdattert blickte ich zur
Wanduhr über der Glasscheibe. Es war Viertel nach elf. Mit einer solchen
Pünktlichkeit hatte ich nicht gerechnet.
    Von Woll keine Spur mehr. Doch, dort hinten sah ich ihn. Er
hatte Jacke und Schal übergeworfen und strebte zusammen mit den Kollegen dem
Ausgang zu. Jetzt aber fix!
    Ich sprang auf und stürmte zur Tür hinaus. Das unterirdische
Labyrinth des Stadttheaters hat viele Schönheitsfehler, und nun lernte ich
einen weiteren kennen: Die Tür ging nämlich nach außen auf. Kaum im Flur, warf
ich sie wieder in die Angeln, doch da war es bereits zu spät. Starr vor
Schreck, die rechte Hand am schönen Hals, stand eine Person vor mir und sah
mich an. Nicht irgendeine Person, sondern meine Traumfrau aus der letzten
Reihe. Um ein Haar hätte sie die Tür vor die Stirn bekommen.
    Abhauen, fuhr es mir durch den Kopf. Mach dich fort, Max, lös
dich in Luft auf. Ein Schritt zur Seite, noch einer.
    »Achtung!«, schrie sie.
    Ich blieb stehen. Salzsäule. Unter meinen Fußsohlen knirschte
etwas.
    »Meine Mundstücke!«
    Vorsichtig schielte ich nach unten. Sah helle Holzstückchen
über den Boden verteilt, fünf, sechs Stück, an einem Ende mit buntem Garn
umwickelt. Ein weiteres kam unter meinem rechten Schuh zum Vorschein. Platter
als die anderen.
    »Sind Sie wahnsinnig?«, fuhr sie mich an. »Was machen Sie
hier?«
    »Mein Gott«, stieß ich hervor. Ich fühlte mich, als hätte ich
ihr Baby überfahren. »Es tut mir so leid, wirklich.«
    »Nicht bewegen!« Sie bückte sich und hob das flach getretene
Stück Holz auf.
    »Ich machs wieder gut«, stotterte ich, neben ihr kniend.
»Glauben Sie mir, ich mache alles wieder gut. Sie müssen mir vertrauen.« Mein
Unvermögen, die richtigen Worte zu finden, verstärkte die Peinlichkeit der
Situation noch. Wahrscheinlich sah ich aus, als würde ich gleich in Tränen ausbrechen.
Um uns drängelten sich die Orchestermusiker, glotzten neugierig, gaben
belustigte Kommentare ab.
    »Seien Sie froh, dass das nicht meine Konzertmundstücke
sind«, murmelte sie.
    »Ich bezahle Ihnen das«, sagte ich. »Was kosten …?

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