Schlussblende
Coughlans Gebete erhört worden, er hatte das ideale Plätzchen gefunden. Das Verladedock war ein wenig schmaler als der Fabrikkomplex und sah auf den ersten Blick aus, als sei es von einem Ende bis zum anderen mit Kartons vollgestellt. Wenn man sich aber die Mühe machte, genauer hinzusehen, kam man dahinter, daß die Kartons keineswegs dicht an dicht standen, so daß jemand, der nicht zuviel Platz beanspruchte, sich zwischen ihnen relativ bequem einrichten konnte. Bei einer – zum Glück sehr unwahrscheinlichen – Inspektion des Verladedocks wäre Tims Schlafplatz ohne Zweifel schnell entdeckt worden, aber mehr als seinen schmuddeligen Schlafsack und zwei Tragetaschen hätte man dabei nicht gefunden. Die eine Tragetasche enthielt ein schmutziges T-Shirt, ebenso schmutzige Socken, schmutzige Boxershorts und eine Cordhose, die irgendwann mal dunkelbraun gewesen war, mittlerweile aber eine Farbe angenommen hatte, bei der man unwillkürlich an das Gefieder von Seevögeln denken mußte, die einer Ölpest zum Opfer gefallen waren.
Tim kauerte, den zusammengeknautschten Schlafsack als Kissen unter den knochigen Hintern geschoben, in einer Ecke seines illegalen Domizils und aß Chips und Currysoße, der Einfachheit halber gleich aus der Plastikschale. Die Literflasche Cidre – oder zumindest den größten Teil davon – hatte er sich vorsorglich fürs Abendessen aufgespart, damit er sein kärgliches Mahl mit dem Apfelwein hinunterspülen konnte. Außerdem gab ihm das die nötige Bettschwere. Gerade in kalten Nächten kann’s nichts schaden, etwas intus zu haben, was von innen wärmt.
Es war ihm schon schlechter gegangen. Er hatte viele Monate lang auf der Straße gelebt, bevor es ihm gelungen war, aus dem Heroinnebel aufzutauchen, durch den für ihn das Leben zur Hölle geworden war. Er war seinerzeit so auf den Hund gekommen, daß er nicht mal das Geld für Drogen zusammenkratzen konnte. Und genau das hatte ihn, wie das Schicksal so spielt, gerettet. Zum Wendepunkt war der Abend geworden, an dem er, vor Kälte zitternd, im Weihnachtszelt einer karitativen Organisation mit einer Portion kaltem Truthahn und frommen Sprüchen gefüttert worden war. Kurz danach hatte er angefangen, auf der Straße
Jesus und du
zu verkaufen, und es fertiggebracht, immerhin soviel Geld beiseite zu legen, daß er in einem Wohltätigkeitsbazar Kleidung erstehen konnte, in denen er arm, aber nicht hoffnungslos heruntergekommen aussah. Und er hatte es geschafft, Arbeit auf den Docks zu finden. Schlechtbezahlte Gelegenheitsarbeit, für die er bar auf die Hand bezahlt wurde. Und bei der Gelegenheit hatte er seinen jetzigen Schlafplatz auf dem Verladedock entdeckt und zu seiner Erleichterung festgestellt, daß die Firma, der das Dock gehörte, zu knauserig war, um sich einen Nachtwächter zu leisten.
Seither hatte er fast dreihundert Pfund zusammengespart, die einstweilen noch auf dem Konto der Firma schlummerten, aber das blieb nicht mehr lange so. Denn bald würde er so weit sein, daß er ein eigenes Bankkonto eröffnen konnte, und das warf dann so viel Zinsen ab, daß er sich davon und von der monatlichen Sozialfürsorge eine anständige Bleibe und etwas Ordentliches zu essen leisten konnte.
Tim war ganz unten gewesen, kurz vor dem Absaufen. Aber nun war er überzeugt, daß er’s bald schaffte, sich wieder nach oben zu strampeln, nicht gerade bis zur Sonne, aber ein Stück näher zu ihr. Er knüllte das Plastikschälchen zusammen und warf es irgendwohin zwischen die Kartons. Dann öffnete er die Cidreflasche und ließ sich den Inhalt mit schnellen Schlucken die Kehle hinunterrinnen. Der Gedanke, das Zeug mit Genuß zu trinken, wäre ihm nie gekommen. Warum sollte er auch?
Jacko Vance war nie etwas in den Schoß gefallen. Meistens hatte er die Gelegenheit am Schopf packen und sie, wie sehr sie auch strampelte und sich wehrte, auf die Bühne seines Lebens zerren müssen. Die Einsicht, daß jeder seines Glückes Schmied ist, war ihm schon in Kindertagen gekommen, und seither hatte er wieder und wieder die Erfahrung gemacht: Wer nicht fleißig schmiedete, bekam auch nichts ab. Seine Mutter hatte unter einer postnatalen Depression gelitten und sich, weil sie Abscheu vor ihm empfand, kaum um ihn gekümmert. Sein Vater um so mehr, und das war meistens nicht sehr angenehm gewesen.
Bereits in den ersten Schuljahren hatte das hübsche Kind mit dem nackenlangen, blonden Haar und den großen staunenden Augen herausgefunden, welche magische
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