Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
Schicksal war. Und Flynn war sich schon als Zehnjähriger sicher, dass auch er darin sterben würde. Als er in der Schule gefragt wurde, was er später werden wollte, antwortete er, es sei ihm egal, solange er dabei Auto fahren konnte. Im Kunstunterricht sollten sie etwas zeichnen, das sie durchs Fenster sahen: den Fahnenmast, das Football-Feld, ein Flugzeug am Himmel. Flynn brauchte sämtliche orangefarbenen und gelben Buntstifte auf, um Autos zu malen, die zu Feuerbällen explodierten. Der Schulberater wurde eingeschaltet. Man wollte ihn zum Kinderpsychologen schicken. Flynns Mutter seufzte nur.
Dann und wann bestimmten alltägliche Bedürfnisse das Geschehen. Danny brachte seine glatthaarigen Freundinnen mit nach Hause, während der Vater schnarchte und die Mutter bei der Arbeit war. Manchmal sollten die Mädchen auf ihre kleinen Brüder oder Schwestern aufpassen, dann musste Flynn sich um sie kümmern. Sie sahen fern oder spielten hinterm Haus Softball. Flynn machte ihnen Erdnussbutter- und Marmeladenbrote. Wenn er die Kinder mochte, durften sie seine Comics lesen. Irgendwann kamen Danny und das Mädchen aus seinem Zimmer, und das Mädchen hatte rosa Wangen und sah stolz aus. Danny sah ein bisschen gelangweilt und abwartend aus. Sie schnappten sich den kleinen Bruder oder die Schwester und gingen durch die Haustür hinaus wie eine Familie, die überlegte, ein Haus zu kaufen. Danny zwinkerte Flynn zu, und Flynn schwoll die Brust, auch wenn er nicht wusste, warum. Ihr Vater wachte mit einem röchelnden Husten auf, der immer stärker wurde, bis er auf dem Bett von Krämpfen geschüttelt wurde. Niemand, außer ihm vielleicht, wusste, dass er bereits an Lungenkrebs starb. Er hatte nie auch nur eine einzige Minute in einer Arztpraxis verbracht.
Danny hatte sich nie gut mit ihm verstanden, aber wenigstens gab es keine konkreten Spannungen zwischen ihnen. Eher eine gewisse Gleichgültigkeit oder die eine oder andere höhnische oder sarkastische Bemerkung. Das meiste davon bekam Flynn gar nicht mit. Mitunter fiel vielleicht ein böses Wort, aber da sich nie jemand wirklich aufregte, wusste er nicht, was man von ihm erwartete. Nur seine Mutter ließ sich manchmal
etwas anmerken. Dann rührte sie besonders heftig in der Suppe. Oder klapperte mit dem Geschirr. Oder starrte aus dem Küchenfenster und rief Geister an, von denen Flynn noch nie etwas gehört hatte. Sie fraß eine Menge in sich hinein.
Danny brachte ein Mädchen zur Beerdigung mit.
Er kam im schwarzen Anzug, schmale schwarze Krawatte, weißes Hemd mit geschlossenen Manschetten, und sie in einem mandarinroten Paisleykleid. Sie wollten im Anschluss irgendwohin ausgehen. Obwohl es bewölkt war, trug sie eine breite Sonnenbrille, die den Großteil ihres Gesichtes verdeckte. Sie war schwarz und hatte einen enormen Afro. Sie hielt Dannys Hand und küsste ihn ständig auf den Hals. Die älteren Iren fingen an zu murmeln. Der Priester schien nicht besonders glücklich. Ihre Mutter verhielt sich, als habe sie nichts anderes erwartet. Flynn weinte die meiste Zeit, während er versuchte, die rätselhaften Rituale zu verstehen. Es gelang ihm nicht, und dieses Gefühl befiel ihn von da an jedes Mal, wenn er an einem Friedhof vorbeikam. Danny und seine Begleitung verzogen sich, kaum dass sie ihre Blumen ins Grab geworfen hatten. Flynn sah das Mädchen nie wieder.
Die Freundinnen und ihre kleinen Geschwister zogen in unbestimmter Folge an Flynn vorbei. Er kam seiner unausgesprochenen Aufgabe nach und kümmerte sich um die Kinder. Danny versuchte nicht einmal so zu tun, als bedeuteten die Mädchen ihm irgendetwas. Flynn hatte das Gefühl, dass sein Bruder dabei war, sich selbst zu zerstören.
Mit Patricia Lee Waltz war es irgendwie anders.
Flynn hatte sie schon mal bei ihnen gesehen, aber Danny schien zu glauben, es wäre das erste Mal. Sie wollte nicht einfach nur mit ihm ins Bett hüpfen. Sie lief durchs Haus und stellte Fragen. Zeigte auf Fotos und erkundigte sich: »Wer ist das? Von wann ist das?« Das brachte Danny aus dem Konzept.
Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, und sah sich hilfesuchend um. Flynn saß auf dem Fußboden und baute ein Brettspiel auf. Patricias Schwester Emma war eine kleinere Version von ihr und hatte dasselbe glatte lange Haar, das beide sich dauernd aus dem Gesicht strichen, um etwas sehen zu können.
Flynn merkte, was mit seinem Bruder los war. Er verstand es nicht ganz, aber er spürte seine Anspannung. Er
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