Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
ihm auf, nur wenige Zentimeter entfernt. Wenn sie kam, dann ganz nah.
»Warum wollen Sie etwas über Patricia wissen?«, fragte er.
»Sie und Ihre Familie haben damals eine Menge durchgemacht.«
»Familien machen immer eine Menge durch.«
»Aber …«
Endlich bemerkte sie seinen Blick. Er war froh, dass sie die Dinge allmählich ernst nahm. Sie schlug jetzt eine andere Richtung ein. »Haben Sie das Gefühl, dass Sie mit dem, was Sie für den CPS tun, in gewisser Weise für seine Sünden bezahlen?«
»Niemand kann für die Sünden eines anderen bezahlen«, erklärte er. »Wir sind alle für unsere eigenen verantwortlich. Ich tue, was ich kann, um zu helfen, weil das meine Arbeit ist. Nicht, weil ich die Fehler meines Bruders wiedergutmachen will.«
»Er hat eine junge Frau getötet.«
Fast hätte er es bestritten, so stark war seine Liebe zu Danny. Aber die Wahrheit drang immer stärker in
sein Bewusstsein, bis sie ihm förmlich den Atem nahm. Emma Waltz’ Nase berührte ihn fast. Sie sah ihm direkt in die Augen.
»Ja, das stimmt«, sagte Flynn mit heiserer Stimme, als hätte er seit Wochen kein Wort mehr gesprochen. »Er hat sie getötet.«
8
Dem Lächeln seines Bruders würde er niemals entkommen. Danny zog ihn immer wieder an die mysteriösen Orte seiner Vergangenheit.
Flynn versuchte, seine Gedanken zu kontrollieren und sie auf seine verlässlichsten Erinnerungen zu beschränken. Zögernd tastete er sich vor, Zentimeter für Zentimeter durch schmerzhafte Gefilde, immer schneller, bis er direkt auf sie zuraste.
Als Flynn an diesem Morgen aufwachte, saß seine Mutter an seinem Bett, die Hände auf den Beinen, mit hängenden Schultern und erhobenem Kopf. Es war eine Haltung, die sie oft einnahm, wenn Danny anrief, um zu sagen, dass die Bullen ihn wieder geschnappt hatten. Sie legte dann auf, saß auf der Bettkante und stieß einen Seufzer aus, der wie ein Orkan durch das ganze Haus ging. Aus irgendeinem Grund musste Flynn jedes Mal lächeln.
Danny arbeitete als Kurierfahrer, die meisten Jobs fand er über ein Anzeigenblatt. Solange etwas in den Charger passte, transportierte er es bis nach Atlantic City. Er lieferte Autoteile, Sonnenbrillenetuis, Vitamine, Druckmaterial, Luftballons, Gemälde und sogar lebende Köder. Jeden Sommer brachte er Kisten voller Regenwürmer zum Angelturnier nach City Island in der Bronx.
Die meisten Aufträge waren schlecht bezahlt und deckten gerade mal den Spritverbrauch, aber wenigstens konnte er etwas in die Steuererklärung schreiben. Abends raste er dann über den Ocean Parkway, die Deer Park Avenue, den Sunrise Highway, runter an die Strände und raus zum Flughafen.
Die Vergangenheit musste Danny genauso an der Kandare gehabt haben wie Flynn. Was ihn mit seinem Bruder verband, verband Danny ebenso mit ihrem Vater. Es war Teil ihres Erbguts, dieser Drang, ein paar Jahrzehnte zurückzuspringen. Flynn erinnerte sich ziemlich gut an ihren Vater. Ein paar Bilder hatten ihn stets begleitet. Ein lächelnder Typ, immer eine Zigarette im Mund. Wie er mit Flynn auf dem Schoß in der Spätvorstellung saß. Die Atmosphäre der dunklen Kinos brachte ihm seinen Vater nahe. Wenn Edward G. Robinson im Paradigm auf der Leinwand erschien, war sein alter Herr sofort neben ihm. Auch nach all den Jahren.
Sein Vater arbeitete in der Nachtschicht beim Long Island Railroad Zugdepot. Er schlief den ganzen Tag und stand auf, wenn die Sonne unterging. Die einzige gemeinsame Zeit, die sie hatten, war nach Einbruch der Dunkelheit.
Der Alte hatte etwas im Blut, das ihn immer wieder zurückblicken ließ. Er hatte Fotoalben seines eigenen Vaters aus der Zeit, als dieser gerade frisch aus Irland kam. Bilder von einem Polizisten, der in Brooklyn Streife lief, vor Apfelständen posierte und Kinder durch die Fontänen aufgedrehter Hydranten jagte. Danny hatte sein Blut geerbt. Wenn der Vater zur Arbeit ging, blätterte Danny die Alben durch und sah sich Fotos von ihm an, in seiner Fünfziger-Jahre-Lederjacke, schwarzen Stiefel, engen Jeans und T-Shirt, mit hochgegelter Tolle und Zigarette zwischen den Lippen. Auf jedem Bild hatte er ein anderes Mädchen im Arm. In Pose geworfen vor einem frisierten’58-Comet.
Danny redete immer davon, dass er hinterm Lenkrad sterben würde. Er steigerte sich regelrecht in den Gedanken hinein. So konnte er den Tod annehmen und ihn gleichzeitig von sich stoßen. Wenn er schon den Löffel abgeben musste, dann bei laufendem Motor.
Er wusste, dass der Charger sein
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