Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road

beantwortete keine von Patricias Fragen, was sie nicht davon abhielt, weiter welche zu stellen. Emma fing ohne Flynn an zu spielen. Sie nahm für ihn die Karte auf und setzte seinen Stein weiter.
    Seit der Beerdigung ihres Vaters war seine Anwesenheit in jedem Raum spürbar, man glaubte regelrecht, seinen Atem zu riechen. Flynn hörte sich laut Fragen beantworten, von denen er glaubte, der Alte habe sie ihm gestellt.
    Patricia wollte Dannys Zimmer sehen, und zwar wirklich sehen . Sie begutachtete seine Sporttrophäen, die vergilbten Zeitungsausschnitte an der Pinnwand, und fragte, warum er sich nicht für ein Stipendium fürs College bewarb. Ob es an seinen Knien läge. Er antwortete nicht. Sie sah sich die Kerben und Dellen in seinem Bettrahmen an. Sie zog Bücher aus dem Regal
und wollte über Themen, Charaktere und zweideutige Enden diskutieren. Ihr Lieblingsbuch war Der Fremde von Albert Camus. Seine Meinung war ihr wichtig. Sie hatte kornblumenblaue Augen, die vor Aufmerksamkeit strahlten. Danny rückte von ihr ab, aber sie zog ihn zu sich heran und sagte, sie sei schwanger.
    Emma nahm eine Karte auf und kicherte. Sie würfelte, schob die Steine übers Brett und hatte ihren Spaß. Flynn hörte seinen toten Vater husten.
    Durchs Fenster sah man den Charger im blendenden Sonnenlicht am Kantstein stehen, von einem goldenen Feuerkranz umgeben. Flynn musste den Kopf wegdrehen. Emma warf ihm einen fragenden Blick zu. Als er wieder hinausschaute, dämmerte es bereits. Sie berührte seine Schulter, und er spürte, wie sein Beschützerinstinkt erwachte. Er fasste sie sanft am Handgelenk. Warum, wusste er nicht.
    Patricia stolperte ins Zimmer und guckte amüsiert und gleichzeitig irritiert. Wieder griff sie nach Dannys Arm, doch er entzog sich ihr erneut. Dann schlich seine Hand wie ein geprügeltes Tier immer näher. Er fasste sie am Ellbogen und zog und schubste sie durchs Wohnzimmer. Ihr Lächeln war jetzt noch strahlender.
    Flynn wusste, dass es Zeit war zu gehen. Er sammelte die Karten und Steine ein, und Emma half ihm dabei. Er faltete das Spielbrett zusammen, legte es in den Kasten und setzte den Deckel drauf. Der Alte hustete noch immer. Vielleicht würde er nie damit aufhören, egal, wie lange er schon unter der Erde lag.
    »Los, kommt, wir machen eine Spritztour«, sagte Danny.

    Sie fuhren nach Osten in Richtung Hamptons. Mit dreistelliger Geschwindigkeit rasten sie über den Sunrise Highway. Die Mädchen liebten das und kreischten vor Aufregung. Danny kniff die Augen zusammen und wirkte nachdenklich. Manchmal warf er Flynn im Rückspiegel einen Blick zu.
    Flynn durchfuhr ein unheimliches Zittern, wie eine dunkle Vorahnung. Seine Hand berührte Patricias Nacken, und sie dreht sich nach ihm um und lächelte. Sie gab ihm ein Zeichen, näher zu kommen, presste ihre Finger auf seine Lippen und strich sanft ihre Linien nach. Flynn hatte das Gefühl, verliebt zu sein.
    Er wusste ungefähr Bescheid über Sex und Kinderkriegen. Er glaubte nicht alles, aber er wusste Bescheid. Sein Vater hatte ihn eines Tages grob informiert, während sie zusahen, wie Rita Hayworth und Glenn Ford in Gilda durch ihre Hassliebe schlingerten. Gilda schlief sich angeblich durch ganz Buenos Aires, während Glenn Ford versuchte, die Wahrheit vor ihrem trotteligen Ehemann zu verbergen. Aus irgendeinem Grund sah sein Vater das als die perfekte Ausgangsbasis an, ihm die grausame und feuchte Realität des Liebemachens und der Geburt zu erklären. Flynn war genervt und wollte den Film sehen.
    Irgendwo in West Hampton hängte sich ein Bulle an sie, als Danny den Motor so laut aufheulen ließ, dass er in jeder Villa zu hören war. Immer wieder blickte er auf Patricias Bauch, während sie sich über die von Mauern umgebenen Grundstücke ausließ. Emma schien das alles nicht mitzubekommen und schwieg die ganze Zeit. Flynn sagte, sie solle sich anschnallen.

    Der Streifenwagen war jetzt hinter ihnen und schaltete das Blaulicht an. Die Sirene war so laut, dass sie fast das Dröhnen des Chargers übertönte. Danny bretterte über eine rote Ampel und verfehlte nur knapp ein paar gut gekleidete Damen auf dem Zebrastreifen. Sie wirbelten auf ihren Absätzen herum, und das Haar wehte ihnen über die Augen. Die Menschen drehten sich nach ihnen um. Einen Moment lang fühlte es sich an, als wäre die Zeit für alle außer ihnen stehen geblieben. Eine schreckliche Sorge überkam Flynn, aber er wusste nicht, wovor er Angst hatte. Es war nicht die Geschwindigkeit.