Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
einen Blick auf Shepard, dann auf Flynn, ohne auch nur einen von beiden wirklich anzusehen.
Flynn wurde schmerzlich bewusst, dass seine sterbende Mutter in einem Zimmer wie diesem gelegen hatte, mit einem Arzt wie diesem in einer ähnlich hoffnungslosen Situation. In seiner Hilflosigkeit hätte er am liebsten einen Stuhl durchs Fenster geworfen, nur um jemanden wegrennen zu sehen.
»Ich verstehe, dass Sie frustriert sind«, sagte der Arzt.
»Das glaube ich kaum. Ich muss mit ihm reden.«
»Tut mir leid.«
»Es ist wichtig.«
»Tut mir leid.«
Während er versuchte, sich aus Flynns Griff zu lösen, sah er sich nach dem hübschesten Mädchen auf dem Flur um. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis er ihr in irgendeinem Motel beim Examen half. Flynn hielt ihn weiter fest. Etwas mehr Druck und ich könnte seine Karriere ruinieren, dachte er. Sie würden ihm ein paar Nägel ins Gelenk stecken, aber es würde nicht mehr so sein wie vorher.
Manchmal war es hilfreich, in Gedanken jemandem zu drohen und seine eigene Macht zu erkennen, wenn man größeren Widrigkeiten ausgesetzt war.
Manchmal auch nicht. Er ließ den Doktor los, der erneut seine bedeutungslose Entschuldigung vorbrachte: »Tut mir leid.«
Die anderen hatten bereits den sorgfältig antrainierten, unverbindlichen Ausdruck eines Gerichtsmediziners angenommen. Sie starrten ihn an und sagten kein Wort.
Nachdem alle gegangen waren, setzte Flynn sich auf Shepards Bettkante und wollte ihm dafür danken, dass
er sich vor ihn gestellt und eine Kugel von seiner eigenen Frau eingefangen hatte. Der Mann hatte Flynn das Leben gerettet, zumindest bis zu seiner Tauchfahrt. Flynn war ihm etwas schuldig, auch wenn Shepard sechs Monate gebraucht hatte, um beim CPS anzurufen.
Er legte die Hand auf seinen Arm und versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, in seinen langsamen Tod einzugreifen. Dasselbe hatte er bei seiner Mutter versucht und war gescheitert, hatte sie vergehen sehen, bis sie irgendwann ganz verschwunden war. Bis zu dem Morgen, an dem er hereinkam und nicht mal mehr ein Stück Fleisch unter all dem Metall und Plastik erkennen konnte.
»Machen Sie die Augen auf, Shepard, reden Sie mit mir. Trennen Sie sich von Ihren Geheimnissen, danach fühlen Sie sich besser. Sie haben den richtigen Schritt gemacht, aber Sie sind noch nicht weit genug gegangen. Versuchen Sie es noch mal. Ihr Gewissen ist noch nicht rein, genauso wenig wie meins. Ich weiß, dass Sie mich hören können. Denken Sie an Ihre Tochter. Wer immer hinter mir her ist, könnte unterwegs an sie geraten. Wie soll ich uns da rausholen?«
Shepard schlief weiter. Dort, wo er war, war er in Sicherheit.
Es war Samstagmorgen. Flynn parkte in Sierras Auffahrt, stieg aus und ging zur Eingangstür.
Er hatte noch nicht geklopft, als ein Kind die Tür öffnete, hinauslief und hinter dem Haus verschwand. Er sah nur etwas blasse Haut und ein Paar dunkle Augen auf Höhe seines Bauchnabels, und schon war es weg.
Flynn ging hinterher. Das Tor nach hinten war offen, er hörte Gelächter, Geschrei und Geheule. Es klang wie auf dem Pausenhof einer Grundschule. Es gefiel ihm nicht, dass das Tor nicht geschlossen war und jeder hereinkommen konnte. Aber man konnte von Kindern nicht erwarten, dass sie dauernd jede Tür zumachten und in ständiger Angst lebten.
Er kam an der Garage vorbei. Die Tür war zu, aber durch die schmutzigen, kaputten Scheiben sah er Trevor, den Teenager, unter einer zerbeulten Motorhaube herumwerkeln. Nuddin saß auf einem Hocker in der Ecke, sein Kopf wippte auf und ab, und er schien zu summen. Trevor redete angeregt auf ihn ein und erklärte ihm, wie der Motor funktionierte. Flynn war froh, dass die beiden sich hatten und ihr Leiden gemeinsam bewältigen konnten.
In der Nähe heulte ein Mädchen auf. Flynn kniff die Augen zusammen und sah sich vorsichtig um. Er hätte nicht hier sein sollen, aber er musste Kelly und Nuddin wiedersehen. Irgendwann hatte er dem Drang nachgegeben, obwohl er wusste, dass Sierra ihm die Hölle dafür heißmachen würde. Nach dem Fiasko mit Mooney konnte es durchaus sein, dass sie ihn tatsächlich feuerte. Er war seitdem noch nicht wieder im Büro gewesen. Egal, was sie in der Sache unternahm, es würde wehtun.
Flynn erreichte den Hof, und plötzlich stürmte das Leben auf ihn ein. Schneeüberhäufte Kinder saßen in den Bäumen und rasten um Iglus herum. Sie bewarfen sich mit Schneebällen und jammerten, weil sie ihre Fausthandschuhe verloren
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