Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
hatten. Ohne ihn wahrzunehmen, wirbelten sie um ihn herum.
Kelly Shepard im Schnee. Im selben weißen Skianzug wie beim ersten Mal. Sie plauderte mit einem kleinen schwarzen Mädchen, ungefähr in ihrem Alter. Was erzählte Sierra ihnen wohl? Dass sie jetzt Schwestern waren? Cousinen? Wie schaffte sie es, sie zu einer Familie zu vereinen, oder machte sie sich gar keine Gedanken darüber? Waren sie alle nur Freunde? Und sie die Mama?
Er konnte nicht glauben, dass er sie schon so lange kannte und so gut wie nichts über ihr Familienleben wusste. Was war aus ihm geworden, dass er den einzigen Menschen, der so etwas wie ein Freund für ihn war, in all diesen Jahren nur zwei oder drei Mal besucht hatte? Es war immer offensichtlicher, was er falsch gemacht hatte. Was dazu geführt hatte, dass Marianne sich von ihm abgewandt hatte.
Er schaffte es nicht, sie zu zählen. Es kam ihm vor, als würden es jede Minute mehr. Er sah Rutschen, Schaukeln und einen abgedeckten Pool. Wahrscheinlich kamen über den Tag verteilt immer wieder Nachbarskinder dazu. Durch das Fenster in der Tür sah er Sierra Brote schmieren und Saft eingießen. Die Kinder stapften rein und raus.
Die Seitenwände der Garage klapperten, als Trevor versuchte, den Motor anzulassen.
Flynn hörte seinen Namen und schob die Hüfte mit dem Halfter ein Stück vor, für den Fall, dass er die Pistole ziehen musste.
Er drehte sich um und sah Kelly mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulaufen. Noch bevor er wusste, was er tat, kam er ihr entgegen. Als sie bei ihm war, kniete er sich mit einem Bein in den Schnee.
Lächelnd hielt er sie fest. »Hey, hallo!«, entfuhr es ihm. Er kam sich vor wie ein Idiot. So wäre es gewesen, wenn Noel nicht gestorben wäre, dachte er. Wenn alles ein wenig anders gelaufen wäre für ihn und Marianne, und wenn sie die wichtigen Dinge gleich zu Beginn geklärt hätten. Dann hielte er jetzt sein Kind in den Armen, und der Schatten im Schneesturm hätte eine Karottennase und einen Zylinder auf. Wäre das nicht schön?
Er fragte sich, wie nah er diesem Leben gewesen war. Ob es einen Punkt gab, an dem er ein paar Zentimeter weiter nach links statt nach rechts hätte gehen können, und alles hätte sich gefügt. Für vieles konnte er vielleicht Danny, seinen Vater und die anderen, die gestorben waren, verantwortlich machen, aber nicht für alles.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
Ihre Wangen waren zwei leuchtend rote Kreise. Als sie lächelte, sah er, dass sie einen Vorderzahn verloren hatte. »Mir geht es gut, danke«, flüsterte sie mit diesem ungewöhnlich sicheren Auftreten, das ihm schon an jenem ersten Abend aufgefallen war.
»Wie groß du geworden bist. Bist du schon auf dem College?«
»Nein, noch nicht ganz.«
»Ah, noch nicht ganz, ja? Bist du sicher? Ich dachte, du wärst schon im ersten Semester.«
»Nein, noch nicht. Ich würde gern nach Harvard. Mein Daddy war auch dort.«
»Wie gefällt es dir hier? Verstehst du dich gut mit den anderen? Magst du Sierra?«
»Miss Humbold ist sehr nett zu uns allen. Ich habe ein paar Freunde gefunden.«
»Ach wirklich, das ist ja toll. Ich wette, du bist hier so was wie die Ballkönigin.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es bedeutet, dass du am beliebtesten bist.«
Sie kicherte. »So etwas Dummes.«
Er überlegte, was sie dazu sagen würde, dass ihr Hund noch da war und mit ihm redete und ihn zum Mord anstiftete. Er wollte sagen, Kelly, hast du nicht Lust, mir deine Bulldogge abzunehmen? Sie ist bösartig.
»Wie geht es deinem Onkel?«
»Nuddin findet es toll hier«, antwortete sie. »Wenn Sturm ist, dürfen wir rausgehen und ihn uns ansehen. Miss Humbold erlaubt es. Sogar wenn es ein Eissturm ist, dann stehen wir auf der Terrasse … ich und noch ein paar andere.«
»Das klingt sehr … gesellig.«
»Oh, ja.«
Eiszapfen klirrten in den Bäumen über ihnen. Flynn hatte ein leichtes Déjà-vu-Erlebnis. Er hatte schon mal mit dem kleinen Mädchen im Schnee gestanden und sich über den Sturm unterhalten.
Sie wirkte immer noch wie ein ganz normales, fröhliches Kind. Er wusste nicht, wie viel Sierra ihr von ihren Eltern erzählt hatte, und ob sie verstanden hatte, was bei ihr Zuhause falsch gelaufen war. Er wusste, dass sie ihren Vater im Krankenhaus besucht hatte, der zwar nicht ansprechbar war, aber, wie es hieß, auch nicht im Koma lag. Der sich in sich selbst versteckte. Vielleicht änderte sich das, wenn Kelly ihn noch ein paar Mal besuchte,
aber das würde Sierra niemals
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