Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
entscheiden. Entweder stürzte er sich auf Flynn, oder er sprang auf seine Harley. Alles hing davon ab, ob es etwas gab, um das er kämpfen wollte. Seinen Stolz, sein Zuhause, seine Frau, seine Position, oder auch nur, um sein Dope zu verteidigen. Wahrscheinlich war es am ehesten das Dope.
Chad hüpfte noch ein bisschen herum, setzte zum Sprung an, als wollte er mit der Faust auf ihn losgehen, und verschwand durch die Garagentür.
Flynn seufzte und kniete sich neben Emma.
Alles, was er sah, war das schwache Schimmern ihrer Augen und einen Ansatz von ihrem blutbeschmierten Mund. Flynn hätte am liebsten beide Hände ausgestreckt und ihr zärtlich das Haar zurückgestrichen, es hochgesteckt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; einfach irgendwas. Aber er wahrte die Distanz.
Er verspürte das seltsame Verlangen, die herumliegenden Dosen einzusammeln und sie in den Schrank zu stellen. Er wollte etwas Schönes für sie kochen, ein paar Kerzen anzünden. Vielleicht war das der Ort, um von vorne anzufangen. Er würde bei ihr einziehen und die bösen Erinnerungen eine nach der anderen beseitigen,
wie Fingerabdrücke, die man wegwischte. Bei jemand anderem aufzuräumen war so viel einfacher als bei sich selbst.
Er war nicht ohne Grund von den Toten zurückgekehrt. Vielleicht war sie der Grund.
»Emma?«, sagte er. »Erinnerst du dich an mich?«
Er hatte dreißig Jahre darauf gewartet, dass Emma Waltz mit ihm redete. In kraftvollen, wundersamen Worten. Gebrochen wie sie war, hoffte er darauf, dass sie seine eigenen Schwächen und Fehler erkannte und ihm helfen konnte. Von einer Frau, die gerade mit einem Steak niedergeschlagen worden war, erhoffte er Erlösung. Er hoffte. Das war neu.
»Emma?«
Seine Hand bewegte sich langsam auf sie zu. Ihr Mund stand offen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie fielen nicht. Vielleicht war auch ihr Leben voller Schuld gewesen, weil sie nie geweint hatte, als es am wichtigsten gewesen wäre.
Emma sprang auf ihre Füße, drehte sich um und lief nach draußen.
Der Gefrierschrank blies ihm kalte Luft in den Nacken, vor ihm stand die Tür offen. Er ging hinterher und sah sie in den Wagen steigen, die Ausfahrt hinunterfahren und im Schnee verschwinden.
Bisher hatte er weder ihre Stimme gehört noch ihr Gesicht gesehen.
15
Mark Shepards Arzt hatte ein jugendliches, fein geschnittenes Gesicht. Er machte seine Runde mit einer Gefolgschaft von acht noch jüngeren Medizinstudenten, versuchte, den Mädchen zu imponieren und zeigte ständig seine unmenschlich weißen Zähne.
Er sprach gestenreich und schien sich seiner glänzenden Locken allzu bewusst, da er dauernd daran herumzupfte. Flynn nahm es ihm nicht übel. Wenn man so gut aussah, konnte man wohl nicht anders, selbst in einem Krankenhauszimmer, in dem es nach blutstillenden Mitteln und wunden Stellen roch. Flynn hatte das Bedürfnis, dasselbe zu tun, an seinen grauen Haaren zu zupfen, sich jünger zu geben, als er war.
Egal, wie nah der Tod war, man wollte ja gut aussehen.
Der Arzt leuchtete mit der Taschenlampe in Shepards Augen und Ohren, zog die Bettdecke zurück und überprüfte
die Schläuche in Shepards Brust. Die Naht verlief vom Brustbein bis zum Bauchnabel, eine schmerzhaft rosige Linie glänzenden Fleisches. Flynn rechnete damit, hinausgeworfen oder zumindest gebeten zu werden, draußen zu warten, aber niemand sprach ihn an.
Der Doktor riss ein paar Insiderwitze über medizinische Maßnahmen und Seren, die Flynn nicht verstand. Es störte ihn nicht. Er versuchte, freundlich zu bleiben. Er grinste. Es half nichts.
Flynns Hand schnellte vor und packte den Arzt am Handgelenk. Er starrte auf Flynns Klammergriff, dann in seine Augen, dann wieder auf die Hand und wieder in die Augen. Die Studenten flüchteten in den Flur. Sie wussten nicht, was sie tun oder was sie sagen sollten, und schon gar nicht, was als Nächstes passieren würde.
»Wann wacht er auf?«, fragte Flynn.
»Das lässt sich unmöglich sagen.«
»Schätzen Sie.«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich denke, er liegt nicht im Koma, sondern ist nur nicht ansprechbar.«
»Das stimmt.«
»Wie kann das sein? Das ist jetzt sechs Wochen her.«
»Ja«, stimmte der Arzt zu. Sie stimmten einem immer zu, weil sie eine Riesenangst vor Prozessen hatten und ja nichts sagen wollten, was irgendwie von Bedeutung war. »Sind Sie mit ihm verwandt?«
»Ja, ich bin sein Zwillingsbruder. Billy.«
Der Arzt hatte keine Akte dabei, um das zu überprüfen. Er warf
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