Schmerzlos: Thriller (German Edition)
war.
»Ich dachte, es ist unter diesen Umständen nur angebracht, einer deiner Klassenkameraden die letzte Ehre zu erweisen.«
Sie warf Abbie einen fragenden Blick zu. Abbie war vermutlich drei Zentimeter größer und fünfundzwanzig Kilo schwerer als bei ihrer letzten Begegnung mit meiner Mutter. Dann machte es Klick.
»Oh. Abbie.«
In der Highschool war Abbie ein rotes Tuch für meine Mutter gewesen. Das lag daran, dass Abbie mit dreißig Gramm Marihuana in der Hosentasche neben mir gesessen hatte, als ich in eine Verkehrskontrolle der Polizei geraten war, was mir eine Jugendstrafe wegen Drogenbesitzes eingebracht hatte. Jetzt plusterte sich meine Mutter auf wie ein Pfau.
Das ärgerte und rührte mich zugleich. »Mom, das ist Schnee von gestern.«
Sie spitzte die Lippen.
»Abbie ist inzwischen eine brave Staatsbürgerin und wertvolle Stütze ihrer Gemeinde. Sie fährt sogar einen Familienvan. Sie hat einen netten Mann und drei entzückende, intelligente Kinder. Wir sollten uns ein Beispiel an ihr nehmen.«
Die Augen meiner Mutter blitzten auf und wurden gleichzeitig dunkel, und für einen Moment schien sie mitten durch mich hindurchzusehen. Ich spürte es bis in die Fingerspitzen. Sie wusste es.
Abbie warf sich die Haare über die Schulter und winkte Wally heran. »Wally, wir sind hier drüben.« Sie wandte sich an meine Mutter. »Mrs. Delaney, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich bin kein schlechter Einfluss mehr für Evan.«
Ich konnte mich nicht von den Augen meiner Mutter losreißen. Das hätte ein glücklicher Moment sein sollen, der Moment, in dem ich mit ihr die Freude über meine Schwangerschaft teilte. Doch der Ausdruck in ihrem Gesicht, die Nervosität ihrer Berührung waren für mich wie ein Schlag ins Gesicht.
Plötzlich spürte ich, wie mir Blut aus der Nase lief.
»Mist.« Ich presste eine Hand auf die Nase.
Meine Mutter legte mir die Hand auf die Schulter. »Leg den Kopf in den Nacken.«
Abbie fischte ein paar zerknüllte Tempos aus ihrer Handtasche. Ich bedankte mich und drückte mir die Tücher ins Gesicht.
Meine Mutter nahm meinen Arm. »Hitze und trockene Luft hast du noch nie vertragen. Du musst aus der Sonne.«
»Schon gut.«
Sie sah Abbie an. »Seid ihr mit dem Auto hier?«
»Ja. Wir wollen noch zum Friedhof. Kommen Sie mit?«
»Evan soll sich in den Wagen setzen.«
Abbie wirkte beunruhigt. »Fehlt dir was?«
»Nein«, stieß ich zwischen den Tempos hervor.
Meine Mutter und ich starrten uns an. Hinter ihrem gereizten Verhalten schien mehr zu stecken als Sorge oder sogar Enttäuschung. Vielmehr wirkte sie, als hätte sie Kummer.
Tommys Stimme drang zu uns. »Da seid ihr ja. Wir fahren jetzt los.«
Als er vor uns stand, bemerkte er die Taschentücher unter meiner Nase.
»Keine Angst, mir geht’s gut. Du erinnerst dich doch noch an meine Mutter, oder?«
Er gab ihr die Hand, bevor er zum Parkplatz wies. »Komm mit, ich hab einen Erste-Hilfe-Kasten im Auto. Wir legen dir eine kalte Kompresse in den Nacken.«
Aber er wandte sich nicht ab. Stattdessen starrte er auf meine Hand, und auf seinem Gesicht malten sich Überraschung und Bedauern.
Abbie folgte seinem Blick und riss die Augen auf. »Heiliger Strohsack.«
»Ja, es ist ein Verlobungsring«, murmelte ich gedämpft.
»Haben Sie das Steinchen in Südafrika mit dem Bagger ausgegraben?«, fragte Abbie.
Tommy lächelte. »Typisch Detective – ich spanne mal wieder nichts. Herzlichen Glückwunsch, Evan. Und wenn ich du wäre, würde ich mit der Hand niemanden schlagen.«
Abbie umarmte mich und lachte etwas zu laut für den traurigen Anlass. »Ach, ich freu mich ja so für dich. Mrs. Delaney, ist das nicht großartig?«
Als die beiden sich zu meiner Mutter umdrehten, verstummten sie. Denn meine Mutter sah überhaupt nicht glücklich aus.
Der Wagen erreichte die Anhöhe vor China Lake und rollte auf der anderen Seite wieder hinunter. Die Straße war ein schwarzer Pfeil durch die Hitze. Berge zogen sich quer über den Horizont und trennten die Erde von dem türkisfarbenen Himmel. Der Wind rüttelte an dem Pick-up und hieß ihn willkommen. Coyote fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Diese Gelegenheit würde er nicht ungenutzt lassen.
In Canoga Park hatte er seine Chance verpasst. In Gedanken spielte er alles noch einmal durch. Er hatte alles sorgfältig arrangiert. Er hatte der Zielperson Angst gemacht und sie aus ihrer Wohnung getrieben. Er war bereit gewesen. Er hatte dafür gesorgt, dass Valerie
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