Schmerzlos: Thriller (German Edition)
erstarrte.
»Wo hast du das her?«
»Von deinem Vater.«
Er nahm die Hände von der Tastatur. »Du solltest es dir anschauen. Aber ich warne dich, es ist ziemlich heftig.«
Ich ließ mich neben ihm nieder. Er setzte das Video wieder auf Anfang. Nachdem er mir von der Seite her einen Blick zugeworfen hatte, klickte er auf Play.
Die Videokamera schwenkte durch einen Raum, mit ruckartig, amateurhaften Bewegungen. Ein kleines Wohnzimmer, ikeablonde Möbel. Durch eines der Fenster strömte Licht herein, was das Objektiv überforderte. Das Bild wurde weiß. Als es wieder erschien, stand der Kameramann vor einem Sessel und filmte die Frau, die darin saß.
»Dana.« Die Stimme des Mannes klang sanft. »Willst du nicht Hallo sagen?«
Meine Finger krallten sich um die Tischplatte. »Großer Gott.«
Jesse legte mir eine Hand auf den Rücken. »Ihr Mann hat das Video aufgenommen und an deinen Vater geschickt.«
Die Kamera zoomte auf das Gesicht der Frau. Es war Dana West. Oder das, was noch von ihr übrig war.
Sie hing wie eine zerbrochene Puppe im Sessel. Die Kamera blieb auf ihre Schultern und ihr Gesicht gerichtet, doch das konnte die heftigen Zuckungen in ihren Armen und Beinen nicht verbergen. Dana war bis auf die Knochen abgemagert und ihr Kopf nicht mehr als ein Schädel mit einer dünnen Schicht Haut. Sie wog mit Sicherheit keine vierzig Kilo mehr. Aber sie lachte.
Ihre Lippen verzogen sich, die Zunge wurde sichtbar. Ihre Hand war außerhalb der Kamera.
»Hallo«, rief sie.
Sie war kaum zu verstehen, weil sie so undeutlich sprach. Ihre Hand kam wieder ins Bild. Die Finger zuckten. Jetzt begriff ich, dass sie winkte.
»Schatz, willst du uns was sagen?«, fragte ihr Mann mit liebevoller Stimme.
Ihr Blick wanderte zur Decke. Eine ihrer Pupillen war normal groß. Die andere war weit geöffnet und wirkte wie ein riesiger dunkler See.
Das war die Stelle, an der Jesse vorhin das Video angehalten hatte. Jetzt lief es weiter.
Dana lachte wieder. Das Geräusch, das aus ihrer Kehle kam, schien absolut nichts mit ihren Gedanken, Bewegungen oder Gefühlen zu tun zu haben.
»Dana, weißt du noch, was wir geübt haben?«, sagte ihr Mann.
Zuerst hatte ich gedacht, sie sei völlig weggetreten. Doch dann begriff ich entsetzt, dass sie völlig klar war. Ihr unsteter Blick wurde ruhiger. Jetzt starrte sie direkt in die Kamera. Obwohl sie immer noch zuckte und lachte, kämpfte sie zentimeterweise darum, ihre zur Faust geballte Hand vor ihr Gesicht zu führen. Ihr Mund öffnete sich, und sie schrie: »Hallo, mein kleines Mädchen.« Sie schnappte nach Luft. »Mommy hat dich lieb.«
Sie legte die geballte Faust an ihren Mund und warf ihrem Mann eine Kusshand zu. Die Kamera schwenkte beiseite, doch ich konnte gerade noch erkennen, dass Dana hochschwanger war.
21. Kapitel
Nachdem ich mich übergeben hatte, kam ich erschöpft aus dem Bad. Jesse saß mit geschlossenen Augen da und massierte sich die Schläfen.
»Das zweite Video solltest du dir vielleicht nicht ansehen.«
»Spiel es ab.«
Ich nahm Platz. Jesse startete eine neue Datei.
Es war ein Stream mit geringer Bandbreite, der von einer Webcam aufgenommen worden war. Ein Mann in der Uniform eines Offiziers der Air Force saß an einem Schreibtisch und redete in die Kamera. Er sah müde und verbraucht aus, obwohl er erst in meinem Alter zu sein schien. Seine Stimme hatte ich schon in dem Video mit Dana gehört.
»Zuerst dachte ich, sie hätte Depressionen. Im ersten Drittel ihrer Schwangerschaft war sie sehr niedergeschlagen. Sie wollte nicht essen, und schlafen konnte sie auch nicht.«
Er blinzelte. »Aber dann kriegte sie Panikattacken und Halluzinationen. Als würde sie in hellwachem Zustand träumen. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Sie verlor ihre Koordinationsfähigkeit und sprach immer undeutlicher. Und sie magerte erschreckend ab.«
Er blinzelte in die Kamera. »Das Video, das ich Ihnen geschickt habe, wurde zwei Wochen vor dem Geburtstermin aufgenommen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass Dana es nicht schaffen würde. Das wurde bei einer Kernspintomografie festgestellt. Als wir das Video machten, hatte sie seit acht Wochen nicht geschlafen. Komplette Schlaflosigkeit.« Er fuhr sich durch die Haare. »Das Video sollte für das Baby sein. Wenn sie alt genug war, sollte sie was von ihrer Mutter haben, sie sollte wissen, wie Dana gewesen war. Obwohl Dana zum Schluss …« Er schloss die Augen. »Es sollte für unser kleines Mädchen sein.«
Er
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