Schmerzspuren
krank und lass mich rollen. Meine Mutter arbeitet heute länger. Ich werde ihr ohne Weiteres auftischen können, dass ich direkt nach der Mathearbeit nach Hause gekommen bin. Dann wird sie wieder ein schlechtes Gewissen haben, dass ich krank und sie nicht da war. Meine Beine arbeiten von allein. Holen Schwung, gehen in die Kurve, bremsen ab. Irgendwann lande ich in einem Einkaufszentrum, das ich nicht kenne. Ich stell mir vor, ich wär in einer anderen Stadt. In einem anderen Land, lass mich weiter treiben, drehe die Musik auf meinen Ohren noch ein bisschen lauter. Als ich plötzlich am Main rauskomme, weiß ich, wo ich bin und dass es verdammt weit nach Hause ist. Philipp und ich waren hier mal. Wir hatten bei so einer Schatzsuche mitgemacht. Per Handy hatten wir obskure Hinweise bekommen, die uns durch die ganze Stadt führten. Nach zwei Stunden hatten wir keinen Bock mehr. Als wieder das Telefon klingelte, grinste Philipp mich an: »Komm, wir machen einfach auf Ertrinkende.« Er hechelte ein paarmal und meldete sich dann völlig hysterisch.
»Wir sind im Wasser! Hilfe.Wir haben eine falsche Fährte verfolgt. Was ist das für ein Mist. Wir dachten, wir müssten schwimmen. Aber das wird hier immer tiefer. Uns ist schweinekalt. Ben kann ich schon nicht mehr sehen,.« Dann hatte er einen Schluck aus seiner Flasche genommen, so komisch gegurgelt und aufgelegt. Ein paar Minuten später haben wir ein Boot der Wasserpolizei gesehen. Saukomisch. Die haben echt nach uns gesucht. Natürlich hatte es hinterher ein bisschen Stress gegeben. Vortäuschung einer Straftat und so. Nicht genug Stress, als dass wir es bereut hätten.
Geld für den Bus oder die U-Bahn hab ich heute natürlich nicht dabei. Der Weg zieht sich.
Meine Mutter sitzt mit einer Freundin auf der Terrasse. Auf dem Rasen liegen nasse Bikinis. Offenbar waren die beiden im neuen Pool planschen. Echt albern.
»Wo warst du denn?«, fragt meine Ma, während ich ihr Wasser auf ex trinke. Sie tätschelt mein Shirt am Rücken.
»Du bist ja klitschnass.«
»Hab ein bisschen viel geschwitzt.«
Sie schiebt ihre Sonnenbrille hoch und hat wieder diesen Röntgenblick.
»Außerdem brauch ich eine Entschuldigung für die letzten beiden Stunden. Nach der Mathearbeit war mir total schlecht.«
»Wieso bist du dann nicht nach Hause gekommen?«
»Bin ich ja. Aber du warst nicht da,.«
Pause. Die Worte fahren ihr direkt in den Bauch. Wie eine Faust.
»Und weil mir so schwummerig war, bin ich ein bisschen
mit dem Board gefahren. Ich dachte, dass es mir dann besser geht. Mein Kreislauf war irgendwie total unten. Ich leg mich wohl besser kurz noch mal hin,.«
Sie guckt verprügelt. Natürlich ist das fies. Aber eigentlich hab ich ja recht. Wenn es mir heute Mittag total schlecht gegangen wär, wär sie nicht da gewesen. Ich wäre ganz allein gewesen. Ich hätte noch nicht mal gewusst, wen ich hätte anrufen können. Im Institut erreiche ich meine Ma nie.
Vom Badezimmerfenster aus sehe ich, wie die Freundin sich verabschiedet. Ich dusche eine Ewigkeit. Dabei stört meine Ma mich nicht. Hab ich ihr verboten. Als ich in mein Zimmer komme, steht sie schon da. Ob ich was essen will, was trinken will, mir was weh tut. Ich könnte ein halbes Schwein auf Toast runterschlingen, doch ich schüttel nur den Kopf.
»Ich leg mich einfach nur hin,.«
Ehe sie was antworten kann, setze ich mir die Kopfhörer auf und drehe die Musik laut. Sie geht. Ohne jeden weiteren Versuch.
Das Entschuldigungsschreiben liegt schon auf dem Küchentisch, als ich am nächsten Morgen zum Frühstück komme.
Ich trödel ein bisschen rum, bin dann wie immer spät dran und stelle mir vor, dass ich am liebsten ein Entschuldigungsschreiben für den Rest des Jahres hätte. Die Schule nervt nur noch. Also, die Schule selbst eigentlich nicht so. Aber in der Klasse mutieren langsam alle zu Arschlöchern, Aufschneidern oder Dummschwätzern. Die Mädchen sind
eine einzige Katastrophe. Entweder sehen sie wie angeschwemmte Seekühe aus oder wie billige Kopien von Amy Winehouse. Und die wirkt ja schon billig. Plötzlich tragen alle zu kurze T-Shirts oder hautenge Tops mit durchsichtigen BH-Trägern drunter.
Ich ziehe den Ärmel meines Shirts noch weiter runter, versuche, ihn unter der Uhr festzuklemmen. Wenn diese dünne Narbe nicht wäre, würde ich denken, ich hab nur geträumt. Irgendwie war ich trotz des Hungers eingeschlafen gestern Abend. Viel zu früh. Gegen halb zwei war ich wach. Ich weiß gar nicht
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