Schmetterlinge im Gepaeck
ich ihren Bruder verdient habe. »Okay, okay«, sage ich. Alle starren mich an, während ich die Stofffetzen anstarre. Wenn ich doch nur gröÃere Teile hätte, aus denen man etwas machen könnte. Die hier sind so klein, dass sie nicht mal mehr ein ganzes Kostüm ergeben würden.
Da kommt mir ein Gedanke. »Diese alten Kostüme â¦Â«
Calliope stöhnt.
»Nein, hör zu«, sage ich. »Wie viele hast du davon?«
Sie zeigt mir noch eine vertraute Geste, der geöffnete Mund und die gerunzelte Stirn dazu. Das Gesicht für schwierige Gleichungen. »Keine Ahnung. Eine Menge. Mindestens ein Dutzend.«
»Bring sie her.«
»Sie passen mir nicht mehr alle! Die kann ich unmöglich anziehen, damit sehe ich â¦Â«
»Musst du auch nicht«, beruhige ich sie. »Wir benutzen nur einzelne Teile davon, um daraus etwas Neues zu machen.«
Sie ist wieder kurz davor, hysterisch zu werden. »Ich soll mit lauter Versatzstücken aus alten Kostümen herumlaufen? Soll ich wie eine Vogelscheuche aussehen?«
Aber ich bin ganz ruhig, jetzt, da ich einen Plan habe. »Nein. Ich werde dir ein funkelnagelneues Kostüm erschaffen.«
Fünf Minuten später kommt sie zurück mit ⦠Cricket. Beide haben die Arme voller Stretchstoffe und glitzernder Perlen. Crickets Haare sind ebenfalls vom Schlaf verwuschelt und seine Armbänder fehlen. Seine Handgelenke sehen nackt aus. Unsere Blicke treffen sich und seine Gedanken stehen ihm ins Gesicht geschrieben: Dankbarkeit dafür, dass ich seiner Schwester helfe, und eine unverkennbare quälende Sehnsucht.
Die Sehnsucht spiegelt meine eigene wider.
Ich bedeute den beiden, mit rauf in mein Zimmer zu kommen. Cricket zögert am Fuà der Treppe, unsicher, ob er raufgehen darf. Aber Andy stupst ihn an und ich bin erleichtert. »Irgendwas davon lässt sich bestimmt verwerten«, sage ich zu Calliope.
Sie ist immer noch gereizt. »Ich kann nicht glauben, dass meine dumme Nichte mir das angetan hat.«
Meine Gesichtsmuskeln zucken, aber wahrscheinlich würde ich an ihrer Stelle das Gleiche sagen. »Lasst uns die Kostüme ausbreiten und sehen, was wir haben.«
»Ausbreiten? Wo denn?«
Fast verliere ich auch die Nerven, als ich meinen FuÃboden sehe und merke, dass sie recht hat. »Oh. Ach so.« Ich schiebe die hingeworfenen Schuh- und Kleiderhaufen in die Ecken und Andy und Cricket helfen mir. Nathan wartet im Türrahmen und beäugt misstrauisch die Situation â und Cricket. Als auf dem Boden genug Platz ist, legen wir die Kostüme hin.
Ãberwältigt betrachten wir die ausgebreiteten Sachen.
»Welche Musik hast du für die Kür ausgesucht?«, fragt Andy Calliope.
Alle schauen hoch und drehen sich zu ihm um.
»Was denn?« Er zuckt mit den Schultern. »Wir müssen erst wissen, zu welcher Musik sie läuft, bevor Lo das passende Kostüm dazu entwerfen kann. Was ist ihre Inspiration?«
Nathan guckt ihn verständnislos an.
Ich grinse. »Er hat recht. Wozu läufst du, Calliope?«
»Es ist eine Auswahl aus Romeo und Julia von 1968.«
»Keine Ahnung, wie das klingt.« Ich zeige auf meinen Laptop. »Lad es runter.«
»Ich weià was Besseres.« Sie setzt sich auf meinen Stuhl u nd gibt ihren eigenen Namen in eine Suchmaschine ein. Eine r der ersten Einträge ist ein Video ihres letzten Wettbewerbs. »Seht her.«
Wir versammeln uns um meinen Computer. Ihre Musik ist betörend und romantisch. Voller Dramatik und Spannung, dann klagend, und sie endet mit einem kraftvollen Crescendo in der Erlösung. Sie ist wunderschön. Calliope ist wunderschön. Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr laufen sehen und hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Oder ich hatte vergessen, wie gut sie ist.
Oder ich hatte mich gezwungen, es zu vergessen.
Calliope bewegt sich leidenschaftlich, anmutig und selbstbewusst. Sie ist eine Primaballerina. Und es ist nicht nur die Art, wie ihre FüÃe über das Eis gleiten â es ist auch ihre Mimik, die sie in Arme, Hände und Finger flieÃen lässt. Sie stellt jedes Gefühl in der Musik dar. Sie spürt jedes Gefühl in der Musik. Kein Wunder, dass Cricket an seine Schwester glaubt. Kein Wunder, dass er so viel von seinem eigenen Leben geopfert hat, um ihren Erfolg zu sehen. Sie ist auÃergewöhnlich.
Das Video ist zu Ende und alle schweigen ehrfürchtig.
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