Schmetterlingstod: Kriminalroman (German Edition)
wonach er suchte. Auch wenn er erneut lautlos ›Zeitverschwendung‹ vor
sich hinmurmelte. Er verließ gar nicht erst die Wohnung, in der er war, sondern
ging auf den Raum zu, der sich gegenüber der Küche befand. Niemand da. Die Stille
noch einnehmender. Es war dunkel, aber nicht so sehr wie bei seinem ersten Besuch.
Der Schein des Feuerzeugs würde diesmal also nicht unbedingt nötig sein. Der Schlafsack
und die löchrigen Decken, die er in Erinnerung hatte, auch die Kerzenstummel. Mit
einem angespannten Lächeln ließ John seinen Blick über die Wasser- und Grauburgunderflaschen
wandern. Zu den leeren Weinflaschen waren zwei weitere leere und eine ungeöffnete
hinzugekommen. Abgepacktes Vollkornbrot, Käse. Und Gummibärchentüten. Mehrere leere
und eine, die noch voll war. Sein Lächeln wurde breiter. Ja, Gummibärchen.
Konnte es
tatsächlich sein, dass …? Er dachte den verrückten Gedanken nicht zu Ende. Nicht
zu früh freuen!, warnte er sich selbst. Er lauschte in die Lautlosigkeit dieses
Hauses. Draußen trommelte der Regen, wenn auch nicht mehr ganz so stark. Und jetzt?
Einfach abwarten?
Ja, einfach
abwarten. Im Schneidersitz auf den beiden Decken. Von den vor langer Zeit verlegten
Fliesen stieg Kälte auf. Die Geräusche des Regens wurden leiser, verloren sich endgültig.
Es wurde noch dunkler. Irgendwann stand John auf. Er rieb sich die Hinterbacken
und Oberschenkel. Um sich die Beine zu vertreten, drehte er eine kleine Runde durch
die Wohnung. Er stand vor der Kloschüssel und hatte sich gerade erleichtert, als
die geradezu unwirkliche Stille zerbrach.
Ein Knirschen,
der Laut eines Aufsprungs.
Jemand hatte
sich durch dasselbe Fenster Zutritt verschafft wie John. Leise Schritte auf dem
staubigen Boden.
John hielt
den Atem an und achtete darauf, seinen Reißverschluss so leise wie nur möglich zuzuziehen.
Er presste sich gegen die Wand des Bads, spähte am Türrahmen vorbei in die Wohnung.
Aus dem Dunkel des Gangs löste sich eine schlanke Gestalt, deren Kopf von einer
Kapuze verhüllt wurde. Sie trug eine Plastiktüte und ging in das Zimmer mit den
Decken und Vorräten.
Während
John ihr langsam dorthin folgte, beobachtete er durch die offen stehende Tür, wie
die Gestalt die Tüte ablegte und sich auf die Decken hockte.
Er trat
in den Rahmen und verharrte dort.
Stille.
Die Gestalt
federte nach oben – schnell, sehr schnell, blieb dann jedoch abrupt stehen. Eine
Flucht war unmöglich. John füllte den Türrahmen aus und hob seine Rechte. Ich krieg
dich, sagte diese unaufdringliche Geste, an mir kommst du nicht vorbei.
Erneut Stille.
Für mehrere Sekunden, rasende und zugleich schleichende Sekunden.
Sie standen
einander gegenüber, regungslos.
John räusperte
sich, als hätte er seine Stimme irgendwie verloren. Dann langte er nach vorn. Mit
den Fingerspitzen streifte er die Kapuze nach hinten, und schwarzes Haar floss sogleich
über die schmalen Schultern.
»Du kannst
dir nicht vorstellen«, sagte John leise, »wie sehr ich mich freue, dich kennenzulernen.«
10
Kopf oder Zahl
Die Flammen der drei Kerzenstummel
verströmten ein zerbrechliches Licht, das sich beinahe zaghaft auf das Gesicht der
jungen Frau legte. Beschattet und beleuchtet zugleich, wirkte sie noch weitaus bezaubernder,
und das Schwarz ihrer Augen erhielt einen besonderen Glanz. Ja, sie war so schön
wie auf der Fotografie. Dennoch schimmerte etwas in ihrem Blick auf, das in den
Tagen, als die Aufnahme gemacht worden war, noch nicht zu ihrem Leben gehört hatte.
In der Zwischenzeit musste sie vieles gesehen haben, was die frühere Unbeschwertheit
verwischt hatte.
Selbst die
letzten Wochen – mit Sicherheit Wochen voller Angst – hatten ihre Attraktivität
kaum beeinträchtigt. Auch wenn ein Friseurbesuch und frische Kleidung notwendig
waren und jede ihrer Gesten die Zerrissenheit ihrer Situation widerspiegelte: John
Dietz sah sofort, warum ausgerechnet diese junge Frau zu Lady Butterfly geworden
war. Und daran konnte selbst die Tatsche nichts ändern, dass sie ihre Kurven in
weiten Jeans und unter der etwas zu großen Kapuzenjacke versteckte. Oder es zumindest
versuchte.
Der Gedanke
an Flucht war ihr offenbar nicht mehr gekommen. Sie hatte keine Anstalten gemacht,
fortzulaufen, obwohl sie offenkundig nicht wusste, woran sie mit dem Kerl in Jeans
und Lederjacke war, den sie bereits einmal in diesem Haus gesehen hatte. Sie saß
auf einer der Decken, er auf der anderen. John hüpften so viele Fragen auf den
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