Schmetterlingstod: Kriminalroman (German Edition)
weiß,
Tante Ju.«
»Ach ja,
umso schöner ist es, dich zu sehen.«
Er nickte
rasch, als könne er damit irgendwie ihre Gedanken auf Trab bringen. Doch sie bot
ihm nur einen Kaffee an.
»Nein, danke.«
Diesmal ein rasches Schütteln seines Kopfes. »Also, ist dir noch irgendein Gedanke
gekommen?«
Tante Ju
schaute ihn an, als hätte er sich in einer fremden Sprache geäußert. »Ein Gedanke?«
»Na ja,
das Foto, du weißt schon.« Er beugte sich vor. »Deswegen wolltest du, dass ich …«
»Na klar«,
unterbrach sie ihn und schlug sich mit der Hand auf ihre Frisur, sodass die Finger
kurz in dem grauen Dschungel verschwanden. »Das Bild. Ich habe dich ja extra angerufen.«
»Genau«,
bestätigte er erleichtert.
»Na los,
her damit. Ich muss es mir noch mal angucken.«
John legte
das Foto auf einen Schreibblock, dessen oberstes Blatt mit Tante Jus krakeligen
Notizen übersät war. Ohne es in die Hand zu nehmen, den Kopf tief gebeugt, starrte
die alte Dame gute 20 Sekunden, die John wie eine Stunde erschienen, wortlos darauf.
»Ei, ei,
ei«, murmelte sie dann, den Blick ziemlich unschlüssig auf die leere Wand hinter
John richtend.
Er verschränkte
die Arme vor der Brust und fragte mit liebevoller Nachsicht: »Und was heißt ›ei,
ei, ei‹?«
Ein beiläufiges
Zucken der Achseln. »Wie ich’s mir dachte.« Tante Ju nickte bestätigend. »Die ganze
Zeit über ist mir das Gesichtchen nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«
John kannte
das. Bevor sie etwas preisgab, musste sie erst einen langen Anlauf nehmen.
»Ich habe
überlegt und überlegt«, fuhr Tante Ju fort, »gegrübelt und gegrübelt. Habe die Zeitungen
der letzten Wochen durchgeblättert. Habe mich immer mal wieder durchs Archiv gekämpft.
Aber …«
Aufmerksam
geworden, sah John zu ihr herüber. »Und?« Er konnte es nicht vermeiden, dass seine
Stimme erwartungsvoll klang – selbst wenn seine Erwartungen mehr als bescheiden
waren.
»Und? Natürlich
nix.« Sie lachte auf. »Nix und wieder nix.«
Das wird
einmal auf meinem Grabstein stehen, dachte er und merkte dabei, wie seine Schultern
etwas nach unten sanken.
»Aber dann!
Ganz plötzlich«, beeilte sich Tante Ju anzufügen, »kam die erlösende Erinnerung.«
Skeptisch
fing sein Blick sie ein.
»Guck nicht
so zweifelnd, Junge.« Die alte Dame gab ihm das Foto zurück, und er nahm es mechanisch
entgegen.
»Was war
denn nun die erlösende Erinnerung?«
»Na ja,
mir ist tatsächlich eingefallen, wer die Frau ist. Und dass ich ihr schon einmal
begegnet bin. Auch wenn das eine ganze Weile her ist.« Sie hob die Augenbrauen,
als wolle sie damit die Leistung ihres Erinnerungsvermögens gebührend unterstreichen.
»Du bist
ihr also begegnet«, wiederholte John langsam und weiterhin argwöhnisch. »Wann? Und
wo?«
»Das ist
recht lange her, viele Wochen. Da war es noch richtig heiß. Oder sogar, bevor es
richtig heiß wurde. Lass mich mal überle…«
»Schon gut«,
fiel John ihr ins Wort. »Wo? Wo hast du sie gesehen?«
»Na, bei
der Polizei, Johnny.«
Er fuhr
sich durchs kurz geschnittene Haar. »Bei der Polizei? Auf dem Revier?«
»Ja.« Ihr
Stuhl ächzte. »Warum zweifelst du schon wieder?« Streng, ihr Tonfall.
»Ich zweifle
nicht, ich frage nur«, verteidigte sich John.
»Jedenfalls
sah ich sie dort sitzen, die arme Maus.« Eine kurze Pause wurde von einem mitleidvollen
Kopfschütteln ausgefüllt. »Ein Häufchen Elend. So kauerte sie da, auf einer Bank,
vor einem der Vernehmungszimmer. Ich war nur auf einen Sprung dort. Um Thomas einen
selbst gebackenen Kuchen zum Geburtstag zu bringen.« Wie zuvor schlug sie sich mit
der Hand aufs Haar. »Mensch, also war’s der 28. Mai. Kann ja nur so sein. An diesem
Tag sah ich die junge Frau. Zum ersten und einzigen Mal.«
Thomas war
Tante Jus Neffe – einer ihrer wenigen Verwandten. Er arbeitete als Polizeiwachtmeister,
und John kannte ihn flüchtig.
»Sie saß
also auf der Bank«, nahm John den Faden wieder auf. »Wie ein Häufchen Elend.«
»Ja, genau.
Verweinte Augen, verstrubbelte Haare. Sie hat mir irgendwie leidgetan. Und als ich
den Kuchen bei Thomas abgegeben hatte, quatschte ich sie einfach an.«
Das war
typisch Tante Ju. John lächelte und wartete darauf, dass sie weitersprach.
»Ich stellte
der jungen Frau ein paar Fragen. ›Was ist los mit Ihnen?‹ ›Warum so traurig?‹ ›Ist
etwas Schlimmes passiert?‹ Solche Sachen eben. Aber …« Tante Ju ließ den Satz verklingen
und breitete die Arme aus.
»Aber?«
»Kein Wort
war
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