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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Louisd’or höchstens sind sie wert, und auch das nur, solange es noch die ersten sind. «
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » [W]ährend ein illusionsloses Lächeln die schmerzlich geschwungene Linie ihres Mundes kräuselte. «
    – Ein General rührt, als der Name Zola fällt, keinen Muskel seines Gesichts: » Die Anti-Dreyfus-Gesinnung des Generals ging zu tief, als daß er noch versucht hätte, ihr durch sein Mienenspiel Ausdruck zu geben. «
    – » [S]ie bewegte dabei leicht ihren Federfächer in dem Bewußtsein, von dem sie in diesem Augenblick beseelt war, ihren Pflichten im Salon bewundernswert nachzukommen. «
    Verlorene Praxis:
    – Sich von seinem Geliebten einen Vers auf den Fächer schreiben lassen.
    84 . Do, 12.10., Berlin
    B. ruft an, seine Freundin und er haben sich nach drei Jahren getrennt. Wundert sich, daß ich mich noch über neue Popmusik informiere, ihn interessiert das alles nicht mehr. Hatte schlimmen Hexenschuß, drei Wochen Rückenschmerzen, Übungen mit einem »Terraband«. Trifft sich mit einer Kindergartenfreundin, man dürfe natürlich nicht zugeben, daß man nur klingelt, weil man verlassen wurde.
    Hätte ich heute die Zeitung nicht gelesen, ich hätte nie erfahren, daß das »Gesetz zur Anpassung schuldrechtlicher Nutzungsverhältnisse an Grundstücken im Beitrittsgebiet« ausläuft, peinlich, wenn ich wieder als einziger nichts davon mitbekommen hätte. In Bayern hat ein Gesundheitsminister namens »Schnappauf« »neue Gammelfleischfunde gemacht«, und die Koalition diskutiert über eine »Überforderungsklausel«, für die ich mir natürlich ein breites Anwendungsfeld wünsche. Nora Tschirner und Till Schweiger setzen sich für Organspenden ein (und man muß sofort an eine elegante Entsorgungsmöglichkeit für die beiden denken). Aber am meisten hat es mich begeistert zu erfahren, daß man »die legendäre Chefredakteurin der VOGUE« nicht ansprechen dürfe, wenn man ihr im Aufzug des Condé-Nast-Buildings in New York begegne (ein Fall für meine Liste »Nutzloses Wissen«, das ja nie nutzlos ist, man kann sich leicht einen Katastrophenfilm denken, in dessen spannendster Szene genau diese Information die Menschheit vor dem Untergang rettet).
    Zum Glück schaffe ich es nur einmal in der Woche Zeitung zu lesen, das einzige, was man dadurch verpaßt, sind die Todesanzeigen, aber manchmal hat man sie auch gar nicht verpaßt, sondern Erwin Geschonneck lebt noch und wird demnächst hundert. Das Schönste am Zeitunglesen ist der Moment, wenn man das Blatt wieder weglegt, aus dem Fenster vom Café guckt und sich klar macht, wie gut es einem geht. Ich fand es immer unter meiner Würde, positiv zu denken, ich wollte meine Komplexität nicht zu etwas Überflüssigem degradiert sehen, aber es ist natürlich auch etwas dran, daß man sich darin üben kann, sein Glück zu erkennen. Ich werde zum Beispiel nie wieder so nah an einer Dialysestation wohnen wie im Moment, jeder andere wäre froh.
    1806 wetzten also Offiziere als Provokation an den Stufen der französischen Botschaft ihre Säbel. (Man stelle sich das heute vor.) Friedrich der Große meinte, der Soldat müsse vor dem Vorgesetzten mehr Angst haben als vor dem Feind. Und Napoleon kämpft in aufgelöster Reihe, weil die Offiziere nicht mehr die Mannschaften von der Desertion abhalten müssen.
    Es ist schrecklich, daß immer alles so interessant sein muß.
    Durchs Fenster des Cafés auf Berlin zu gucken, erzeugt leider keinen Nervenkitzel mehr. Gestern hat Lou Reed im Radio gesagt, New York sei seine DNA, dann ist Berlin mein eingewachsener Zehnagel. In New York ist immer was los, gestern ist dort eine kleine Passagiermaschine in ein Wohngebäude gestürzt, in der »Upper East Side«, wie es so schön heißt, und die ganze Welt weiß sofort, wo wir uns befinden. Bei uns schlagen nie Flugzeuge ein, denkt man, und wenn, dann würde es sicher ganz langweilig aussehen.
    In der »Upper East Side« habe ich damals auch eine Woche zur Untermiete gewohnt, der Doorman hatte meinen Namen falsch verstanden und mich immer »Mr. Schumacher« genannt, vielleicht war das aber auch sein Name für alle Deutschen. Ich schlief im Kinderzimmer des Sohns der Vermieterin, der Film studierte und dafür seine Militärfahrzeugmodellsammlung nicht mehr brauchte. Es war eigenartig, in New York so etwas Normales zu machen, wie Gemüsereste aus dem Ausguß zu pulen, während der Blick aus dem Fenster auf eigenartig schmale und nie ganz zu begreifende

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