Schmidt Liest Proust
Bouillotte, ein Spielzimmer im Empire-Stil, das von Quiou-Quiou stammt.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– » Die Prinzessin von Parma, die noch nicht einmal den Namen des Malers gehört hatte, machte heftige Kopfbewegungen und lächelte mit aller Leidenschaft, um ihre Bewunderung für das Bild zu bekunden. Doch die Ausdruckskraft ihrer Mimik konnte schließlich nicht das Aufglimmen ersetzen, das unseren Augen fernbleibt, solange wir nicht wissen, wovon man zu uns spricht. «
– » Er macht manchmal drollige Bemerkungen, sagte sie noch immer mit der Miene eines Feinschmeckers und Kenners und lachend, als bedürfe es, um den komischen Sinn eines andern zu beurteilen, eines gewissen Ausdrucks von Heiterkeit. «
Verlorene Praxis:
– Einen köstlichen Château-Yquem trinken und sich an den Schnepfen delektieren, die nach verschiedenen, vom Hausherrn verfeinerten Rezepten zubereitet wurden.
– Während man auf seinem Landsitz spazierengeht, » die Bauern gutmütig mit seinem Spazierstock beiseite schieben « und dabei sagen: » Macht Platz, ihr Bauernvolk! «
85 . Fr, 13.10., EC Dresden – Berlin
Ein Personenschaden in Berlin, also war Südbahnhof doch die falsche Entscheidung gewesen, ich muß mit der S-Bahn noch einmal hoch zum Hauptbahnhof, um von dort nach Dresden zu fahren, allerdings mit einer Stunde Verspätung, was ich erfahre, nachdem ich am Hauptbahnhof im Laufschritt von Gleis zu Gleis geirrt bin. Hauptbahnhof … für mich immer noch Lehrter Bahnhof! Nachdem der jetzige Ostbahnhof, der einmal »Schlesischer Bahnhof« hieß, 1987 in »Hauptbahnhof« umbenannt worden war – weil das wohl weniger nach Osten klang – und ich mich schon nicht daran gewöhnen konnte, daß er jetzt wieder Ostbahnhof heißt, soll ich mich darauf einstellen, daß der Hauptbahnhof jetzt im Westen ist. Das sind zu viele Reformen für ein junges Leben. Am Hauptbahnhof grüßt eine riesige Schrift: »BOMBARDIER Berlin!«, und ich muß denken, daß sie damit auch sechzig Jahre zu spät kommen.
Ein Mädchen im Jeansrock telefoniert neben mir:
»Wieso icke? Na wie? Nich wie. Na immer noch.«
»Das Service-Team lädt herzlich alle sie zum Besuch ein, Gerichte aus behmische Kieche.« Das schöne Gefühl, mit einem tschechischen Zug zu fahren. Eigenartigerweise sofort viel heimatlicher als der ICE. Sie sollten immer ausländische Züge in Deutschland einsetzen, dann hätte man bei jeder Fahrt ein Urlaubsgefühl. Oder gleich die Bevölkerung austauschen, landschaftlich ist Deutschland ja eigentlich schön.
In Berlin ein Personenschaden und in Dresden ein Selbstmörder, der sein Auto in einen Zug gelenkt hat, was uns zusätzliche achtzig Minuten Verspätung bringt. Irgendwann werden sie aus allen Richtungen auf mich zustreben, um mich an der Arbeit zu hindern. Im Abteil saß ein deutsch-französisches Pärchen, sie las ein Buch: »Comment s’orienter ?«. Die beiden waren im Elbsandsteingebirge wandern, und sie wollte ihrem Freund etwas erzählen, aber ihr fiel das deutsche Wort für »grotte« nicht ein, sie konnte ja nicht wissen, daß sie auch »Grotte« sagen konnte. Ich hätte mich fast eingemischt, weil beide so lange grübelten, was sie wohl meinte, aber ich habe immer Angst, die Autorität der Männer zu untergraben, wenn ich etwas besser kann. Eigentlich meinte sie ja auch »Boofen«, aber wenn ich ihr das verraten hätte, hätte sie ihn vielleicht gleich für mich sitzen lassen.
In Dresden-Neustadt muß ich immer an diese Sachsen denken, die uns vor der Wende in Prag von der Neustadt vorgeschwärmt haben, da sei »die Szene«, und man könne überall Bier trinken. Ich bin dann einmal auf einer Klassenfahrt nach Dresden mit einem Mitschüler in die Neustadt ausgebüchst, wir stiegen aus der Straßenbahn und wußten nicht, wonach wir suchten.
Eine Lesung in der »Scheune«. Das Mädchen vom Buchstand hat Soziologie studiert, aber ihren Lieblingssoziologen kannte ich gar nicht und mit Luhmann konnte ich nicht punkten, denn sie war spezialisiert auf »Mikrosoziologie«, einen Teil der Soziologie, der sich, wie ich inzwischen nachrecherchiert habe, mit »grundlegenden Feinstrukturen im zwischenmenschlichen Verhalten befasst« und damit, wie »Interaktionen in sozialen Beziehungen aus kleinsten Verhaltensandeutungen entstehen«. Bei mir verhindern kleinste Verhaltensandeutungen ja immer Interaktionen, so auch diesmal, wo ich aus der unkomplizierten Art, wie sie sich mir freundlich zuwandte, schloß, daß sie mich als
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