Schmidt Liest Proust
Mann nicht ernst nahm und den Rückzug antrat.
Nach Lesungen ist es immer so schwer, mit Zuschauern zu reden, sie helfen einem aber auch kein bißchen. Mit einem kamen wir erst nach einem ermüdenden Gang durch die Wüsten des Smalltalks darauf, daß er eine Kristallographie-Ausbildung machte, da hatten wir doch ein Thema, denn ich hatte im ESP-Unterricht in Adlershof auch immer Siliziumscheiben polieren und unterm Mikroskop Störstellen zählen müssen. Die heißen natürlich »Versatzstellen«, das Wort hatte ich seit damals nicht mehr gehört, und ich hätte fast die Gelegenheit verpaßt, es mir wieder anzueignen, nur weil er wieder so eine Schnitzeljagd nach einem gemeinsamen Thema veranstalten mußte!
Am nächsten Morgen wurde über den Literaturnobelpreis berichtet, damit wollen sie einen wohl etwas unsensibel darauf hinweisen, daß man schon wieder ein Jahr älter ist. Was so ein Preis für die Arbeit bedeuten muß, kann ich mir seit gestern vorstellen, als in der taz ein Artikel über dieses Blog erschienen ist. Ich war ganz unglücklich, weil mir der Leistungsdruck zu groß wurde. Seitdem fühlt es sich an, als würde ich direkt in die Gehirne der Menschheit tippen.
Bei der Abfahrt aus Dresden unterhielten sich mehrere Fahrgäste in Zeichensprache mit ihren auf dem Bahnsteig stehenden Angehörigen. Als ich das sah, wurde mir plötzlich klar, wie ich das Gefühl beschreiben kann, das ich immer habe, wenn ich mit mir unbekannten Frauen spreche, was ich dann sage, kommt mir vor wie das die Gesten seiner Zeichensprache untermalende Lallen eines Gehörlosen. Vielleicht sollte ich es machen wie der Mann, über den die Bahnzeitung berichtete, und der angeblich neun Minuten tauchen kann, ohne Luft zu holen, was ihm gelingt, weil er sich darauf konzentriert, seine Herzschläge zu verlangsamen und jede überflüssige Bewegung zu vermeiden. Manchmal bewege er sich so sparsam, daß es sich für ihn anfühle, als gleite er nur noch »durch seine mentale Kraft« vorwärts. Wenn ich es erst schaffe, neun Minuten ohne Luft zu holen unter Wasser zu bleiben, wäre es bestimmt auch denkbar, mich neun Minuten mit einer Fremden zu unterhalten, ohne zu lallen.
Die Welt der Guermantes, S. 629–650
Der Fürst »Von« aus Deutschland spricht »Archäologie« im Französischen mit »sch«, statt mit »k«, benutzt das Wort aber dafür umso lieber: » Ich möchte den Kaiser […] mit einem alten Arschäologen vergleichen, den wir in Berlin hatten. Vor den alten assyrischen Bildwerken fängt der alte Arschäologe stets zu weinen an. Ist aber eines eine modernere Fälschung, also nicht wirklich antik, weint er eben auch nicht. Will man also wissen, ob ein antikes Stück wirklich antik ist, so bringt man es zu dem alten Arschäologen. Weint er, so wird das Stück für das Museum aufgekauft. Bleiben seine Augen trocken, so schickt man es dem Händler zurück und verklagt ihn als Fälscher. «
Drehen sich die Gespräche um Politik und insbesondere europäische Allianzen, hört Marcel weg, denn » den Träumereien, die ich liebte, lieferten sie keine Nahrung; und hätten sie im übrigen hundertfach die Verführung besessen, die ihnen abging, so hätten sie schon sehr anregend sein müssen, um während dieser in der großen Gesellschaft verbrachten Stunden, in denen ich nur mit meiner Epidermis, meinem wohlfrisierten Haar und meiner Hemdbrust lebte, in denen ich nichts von dem empfinden konnte, was für mich die wahren Genüsse des Daseins bildeten, mein inneres Leben zu wecken «.
Genealogiegespräche sind schon auf normalen Familientreffen ermüdend, aber noch schlimmer ist es bei Adligen, wo ja jeder mit jedem verwandt ist. Und da die dokumentierte Geschichte dieser Familien weiter zurückreicht als die bürgerlicher Familien, müßte man schon ein Historiker sein, um seine eigenen Vorfahren richtig einzuordnen: » Tatsächlich erklärte Monsieur de Guermantes, daß die Urgroßmutter von Monsieur d’Ornessan die Schwester von Marie de Castille-Montjeu gewesen sei, der Gemahlin Timoleons von Lothringen, und infolgedessen eine Tante Orianes. «
Selbst für Marcel ist das ein bißchen viel: » Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich an diesem Abend die Worte Vetter und Kusine hörte. « Weil der Herzog bei fast jedem Namen ruft: » Aber das ist ja ein Vetter von Oriane! «
Bis hierher hat er ja tapfer durchgehalten, auch wenn man für das Verlesen dieses Salonbesuchprotokolls doppelt so lange brauchen dürfte, wie der Besuch
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