Schmidt Liest Proust
durch Westend kommt bei mir angesichts der unverschämt prächtigen Villen ein erfrischender Sozialneid auf. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, so eine Villa zu besitzen, also habe ich das auch noch nie vermißt, aber ich habe früher auch nie darüber nachgedacht, mir einfach, wie letzte Woche wieder, den guten Ziegenkäse zu leisten. Ich muß eigentlich nur zehntausend dieser Nachrufe schreiben und das Geld sparen, dann kann ich mir meine Villa kaufen, also cirka dreißig Jahre lang jeden Tag ein Nachruf – andere arbeiten härter.
Was muß man tun, damit man nicht vergessen stirbt? Seine Bücher haben nicht gereicht, auch nicht das Bundesverdienstkreuz und der Status eines Verfolgten des Naziregimes. Die Redaktion seiner Zeitung, für die er dreißig Jahre gearbeitet hat, war erstaunt: »Ach, der hat noch gelebt?« Man muß also rechtzeitig sterben, damit diejenigen, die die Nachricht interessieren könnte, es noch erleben. Man muß machtbewußt sein und sich Einfluß in Institutionen verschaffen, um den Nachwuchs fördern zu können, der einem dann ewig dankbar ist und sich um den Nachlaß kümmert. Man muß, anders als er, viele Kinder kriegen. (Warum er keine Frau und keine Kinder hatte, konnte ich ja schlecht fragen. So wie alles, was einen Menschen wirklich erklärt, niemanden etwas angeht.)
Ich lebe ja immer noch in der Vorstellung, Deutschland werde einst meine Agonie mit angehaltenem Atem begleiten wie das jugoslawische Volk die von Tito. Monatelang hat sich sein Sterben hingezogen, täglich wurde darüber in den Nachrichten berichtet. Es gibt ein Bild mit jugoslawischen Fußballspielern, die auf die Meldung von seinem Tod hin unter Tränen auf dem Rasen zusammenbrechen. Als der Zug mit seinem Leichnam von Ljubljana nach Belgrad fuhr, standen die Menschen an der Strecke Spalier.
Auf dem Spandauer Damm endlich wieder häßlichere Häuser, sogar mehrere Bestatter nebeneinander, unter anderem der-billigbestatter.com, bei dem man aber auch mindestens 750 Euro einplanen muß. Inzwischen ist es dunkel geworden, und ich grüble immer noch über die richtige Strategie, unsterblich zu werden. Die Schönheit der heranrasenden Autos auf der Stadtautobahn.
Sodom und Gomorra, S. 130–150
Marcel möchte doch gerne von Swann persönlich hören, wie dessen Unterredung mit dem Prinzen abgelaufen ist und ob das Gerücht stimmt, bei ihm zu Hause sei ein den Prinzen parodierender Einakter von Bergotte aufgeführt worden. Swann berichtet Wort für Wort, was der Prinz zu ihm gesagt hat, und man bewundert sein Gedächtnis und die Bereitschaft des Zuhörers, sich das so haarklein wiedergeben zu lassen, wo man heute nur sagen würde: »Na, er hat sich über Dreyfus ausgelassen und bla…« Außerdem wird Swann in seiner Erzählung immer wieder unterbrochen und dann muß er sich setzen: » Er war bei jenem Grad der Ermüdung angelangt, in dem der Körper des Kranken nur noch eine Retorte ist, in der man chemische Reaktionen beobachten kann. «
Charlus zieht Marcel mit Madame de Surgis in eine Nische, in die sich auch Madame de Saint-Euverte klemmt, was Charlus Gelegenheit gibt, vor der Surgis mit Bosheiten über die Saint-Euverte zu glänzen: » Die Nähe dieser Dame genügt, damit ich mir plötzlich sage: ›Ja, zum Kuckuck, sollte meine Abortgrube schadhaft geworden sein?‹ « Aber die so Beleidigte ist viel zu versnobt, um sich zu wehren: » Leider sind in der Gesellschaft ebenso wie in der Welt der Politik die Opfer so feige, daß man den Henkern nicht lange böse sein kann. « Sie bittet Marcel sogar, Charlus am nächsten Tag zu ihrer » Garden-party « mitzubringen.
Der müde Swann spricht wieder über seine überstandenen Eifersuchtsgefühle. Marcel kennt so etwas noch nicht: » Jetzt, wo ich etwas zu müde bin, um mit anderen zu leben, scheinen mir diese alten, mir so ganz allein zugehörigen Gefühle, die ich durchlebt habe, wie es nun einmal die Manie aller Sammler ist, unerreichbar an Wert. Ich schließe mir selbst mein Herz auf, als wäre es so etwas wie eine Vitrine, und betrachte eine nach der anderen alle die Arten von Liebe, welche die anderen nicht kennengelernt haben. «
Ja, der Mensch ist gegen Ende seines Lebens eine unscheinbare Hülle für wertvolle, anderen nicht zugängliche Erinnerungen, ein Museum ohne Besucher.
Währenddessen baggert Charlus bei den Söhnen von Madame de Surgis. Arnulphe erklärt mit lispelnder Stimme, » die zu beweisen schien, daß mindestens seine geistige Entwicklung
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