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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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beginnen. Wird das bis an mein Lebensende so weitergehen, immer nur Selbstüberwindung, Versagen und schlechtes Gewissen?
    Sodom und Gomorra, S. 540–561
    Immer öfter spürt Marcel den Wunsch, sich an die Arbeit zu machen, wobei nicht gesagt wird, was er unter Arbeit versteht. Aber man geht vielleicht nicht zu weit, wenn man vermutet, daß das Ergebnis dieser Arbeit das Buch sein könnte, das wir in den Händen halten.
    Dann wieder so eine nebenher eingestreute überraschende Eröffnung, die uns wie unaufmerksame Leser dastehen läßt. Als er sich im Hotel in den Smoking wirft, pfeift er unbewußt eine Melodie und ist » glücklich über die Vielfalt, die ich in dieser Weise auf drei Ebenen meines Lebens feststellen konnte «, denn dieselbe Melodie hatte er auch schon früher auf dem Weg zu den Gelagen in Rivebelle gepfiffen, dann an dem Abend, an dem er Mademoiselle de Stermaria auf der Insel im Bois zu verführen gedachte, und eben auch » ein paar Tage, nachdem ich sie [Albertine] zum ersten Mal besessen hatte «. Ach so?
    Auf dem Weg aus dem Hotel macht einer der Gäste eine Bemerkung zu ihm, die jene Befriedigung erkennen läßt, » welche die – wäre es auch durch die dümmste Tätigkeit – beschäftigten Leute daraus ziehen, daß sie ›keine Zeit‹ haben, Dinge zu tun, die andere unternehmen «. Meistens sind es gerade die Beschäftigungen dieser Leute, die einem Zeit rauben, und die ganze Welt würde Zeit gewinnen, wenn sich alle mehr Zeit dafür nehmen würden, weniger zu tun.
    Weil er eifersüchtig würde, wenn Albertine nach ihrer Ankunft bei den Verdurins die Treppe hochging, um nach der anstrengenden Anfahrt » Toilette zu machen «, hat er ihr ein Necessaire von Cartier geschenkt, denn damit ist gewährleistet, daß sie sich in Zukunft in seiner Gegenwart pudern kann. Als nächstes wird sie eine Brotbüchse um den Hals gehängt bekommen, damit sie nicht mehr zum Essen verschwinden muß, eine Thermoskanne und schließlich Windeln, um auch diese Abwesenheitszeiten auszuschließen. Dann muß man ihr nur noch Aufputschmittel ins Essen mischen, damit sie sich nicht mehr in den Schlaf verabschiedet, wobei man die Mittel natürlich auch selber nehmen muß, damit man nichts verpaßt.
    Wenig später heißt es übrigens: » [I]ch, der ich keine Eifersucht und kaum noch Liebe für sie empfand. « Und kurz darauf: » Aber da ich ganz an das tägliche Bedürfnis, Albertine zu sehen, versklavt war. «
    Charlus, der sich die Lippen rot pomadisiert, denkt einerseits immer noch, niemand ahne etwas von seiner Orientierung, unterstellt aber andererseits jedem genau das. Außerdem hat er das Problem jener, die schlecht über andere reden, denn er vermutet, » sobald jemand ihm gegenüber in Gedanken versunken schien, daß man dieser Person irgendeine Bemerkung zugetragen habe, die er selbst über sie gemacht habe «. Da aber in Wirklichkeit alle über seine Vorliebe für Männer Bescheid wissen, wirkt er auf die Gesellschaft wie ein exotisches Gewürz, man sucht seine Nähe, » wegen der einzigartigen, geheimnisvollen, raffinierten und monströsen Erfahrung, aus der er schöpfte «.
    Unklares Inventar:
    – Hydrophobie, Bajaderenwimpern.
    Verlorene Praxis:
    – Ängstlich darauf bedacht sein, daß nichts Abträgliches über einen in der Flöten- und Kontrapunktklasse verlautet.
    – Sich als Dame, um die Unterhaltung nicht einzuengen, in einer gewissen Entfernung halten.
    116 . Di, 14.11., Berlin
    Ich habe keine Zeit mehr, über den heutigen Tag zu schreiben, zum Beispiel darüber, daß wir auf einem Spielplatz in der Kollwitzstraße ein Lagerfeuer entdeckt haben und beim Abendbrot meine Kartoffelsuppe vom Montag endlich alle geworden ist, daß es so seltsam mild draußen ist und die Bauarbeiter auf dem neuen Gerüst in der Ramlerstraße »Eins … zwo! Eins … zwo!« gerufen haben, als ich morgens vorbeigejoggt bin und gerade Led Zeppelin hörte. Aber ich kann mir dazu heute nichts ausdenken, weil ich schon zu müde bin, die Übersetzung des Seneca-Textes für morgen hat zu lange gedauert, und einen Satz habe ich immer noch nicht verstanden. Da ich seinetwegen jetzt kaum noch Zeit für Proust habe, soll er wenigstens hier wiedergegeben werden: »…nemo iam divum Augustum nec Ti. Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar te quaerit.«
    Sodom und Gomorra, S. 561–582
    Charlus glaubt also immer noch, daß seine Umwelt nichts von seiner Orientierung ahnt: » So lebte Monsieur de Charlus in

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