Schmidt Liest Proust
neue Kategorie: Bücher, in denen fiktive Kompositionen detailgenau beschrieben werden. Über Musik zu schreiben ist ja schon eigenartig genug, aber dann auch noch über Musik, die gar nicht existiert? Für meinen Geschmack fällt die »Recherche« in diesem Punkt gegen »Doktor Faustus« ein bißchen ab. Immerhin hat Proust einen ironischen Blick auf die spitzweghaften Musikfreunde, die dem Werk lauschen: » Ich blickte auf die Padrona, deren leidenschaftliche Unbewegtheit dagegen zu protestieren schien, daß die Damen des Faubourg die jeder Ahnung baren Köpfe wiegend den Takt angaben. «
Genauso habe ich neulich bei Yo La Tengo im Postbahnhof gestanden, vor mir wie immer ein Bataillon nach Aftershave riechender Zwei-Meter-Kerle, zu denen ich gerne Abstand gehalten hätte, wenn die Lücke, also der Raum um mich, der meiner Meinung nach zu mir gehört wie mein Körper, nicht immer sofort wieder gefüllt worden wäre. Da mich die Musik nicht richtig berührte, konnte ich nicht verhindern, daß mich das Mit-dem-Kopf-Wippen der anderen aggressiv machte. Manche schlossen sogar die Augen, was ich auch irgendwann tat, aber aus Müdigkeit und weil mein Rücken schmerzte. Meine größte Angst war, man könnte das pathetische Die-Augen-Schließen der anderen mit meinem verwechseln. Meine leidenschaftliche Unbewegtheit war ein einziger Protest. Ich glaube, ich habe dadurch auf die Bewegungen der gesamten Zuhörerschaft eingewirkt, wie sich das Wasser ja auch schon weit vor der Klippe kräuselt.
Die musiktheoretischen Überlegungen wirken etwas abgestanden. Vinteuils Septett, wie kommt ein Komponist zu seinem Tonfall, » getrennt von dem anderer Komponisten durch einen weit größeren Unterschied, als wir ihn zwischen den Stimmen zweier Personen oder zwischen dem Brüllen und dem Schrei zweier Tierarten wahrnehmen können «? Die musikalische Spekulation des Komponisten, ein nichtanalytisches Denken aus der Welt der Engel, das wir » ebenso wenig in eine menschliche Sprache zu überführen vermögen, wie vom Körper längst befreite Geister es könnten, wenn sie von einem Medium beschworen und nach dem Geheimnis des Todes befragt werden «.
Muß man sich in den Pausen wieder den Menschen zuwenden, empfindet man die Diskrepanz zwischen deren ungeheurer Banalität und der » Offenbarung eines unbekannten Freudentyps « in der Musik. Verspielt wie das Leben ist, verdankt Marcel diese Offenbarung ausgerechnet der Freundin von Vinteuils Tochter, die die hieroglyphengleichen Notizen des verstorbenen Komponisten rekonstruiert hat. Das heißt, Marcel leidet wegen dieser Frau und ihrer vermuteten früheren Beziehung zu Albertine Höllenqualen, aber andererseits verdankt er ihr das Höchste. Denn er versteht den » seltsamen Anruf « durch das Stück, » der wie ein Versprechen war, daß es noch etwas anderes gebe – etwas, was zweifellos die Kunst verwirklichen kann, etwas anderes als das Nichts, das ich in allen Vergnügungen und in der Liebe selbst gefunden hatte – und daß, wenn mein Leben mir eitel schien, es wenigstens noch nicht an seinem Ende angekommen war «. Also adé, Hoffnung auf Glück, auf Liebe, ja, auch nur auf Vergnügen, ab jetzt ist das alles nur noch im künstlerischen Schaffen zu finden.
Zum Schluß gibt es noch einen weiteren Tod zu vermelden, die Unglücksfälle in der Bekanntschaft häufen sich, wie bei alten Menschen, man würde sonst auch kaum merken, wie im Roman die Zeit vergeht. (Ist uns der Erste Weltkrieg eigentlich unterschlagen worden?) Den gebeutelten, von den Verdurins immer wieder in sadistischer Weise gedemütigten Saniette trifft, nachdem er wegen einer angeblich unpassenden Bemerkung über Vinteuils Musik des Hauses verwiesen worden war, im Hof der Schlag.
Unklares Inventar:
– Theorbe, Drommete.
Bewußtseinserweiterndes Bild:
– Der Cellist » neigte sich über die Saiten, er betastete sie mit der gleichen hausfraulichen Geduld, als putze er einen Kohlkopf ab «.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Jeder Künstler scheint so der Bürger eines unbekannten Vaterlandes zu sein, das er selbst vergessen hat und das von jenem völlig verschieden ist, aus dem ein anderer großer Künstler zur Erde herniedersteigt. «
136 . Fr, 8.12., Berlin
Es war mir immer wichtig, möglichst unabhängig zu sein, erst die Zentralheizung hat mich bestechlich gemacht. Aber auch die Bedeutung, die die »Chaussee der Enthusiasten« inzwischen für meine Psychohygiene hat, ist beunruhigend. Gestern
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